Autismus bei Kindern: "Eltern haben oft Sorge, dass sie schuld sind"
Weltweiten Schätzungen zufolge ist ungefähr 1 Prozent der Gesamtbevölkerung eines Landes von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen.
Für Österreich gibt es keine konkreten Zahlen, es können nur internationale Studien herangezogen werden. "Anhand dieser Daten kann man davon ausgehen, dass in Österreich etwa 87.000 Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Autismus-Spektrum-Störung leben," informiert der Dachverband Österreichischer Autistenhilfe. Und: Buben sind im Vergleich zu Mädchen mit einem Schnitt von 4:1 überrepräsentiert.
Keine klare Ursache
Autismus wird mittlerweile nicht mehr als Erkrankung, sondern als eine andere Form der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung gesehen. Auch die Arten der Therapien haben sich in den letzten Jahren verändert und entsprechend weiterentwickelt.
Eine klare Ursache gibt es nicht. Es gilt als wahrscheinlich, dass genetische Faktoren – möglicherweise in Wechselwirkung mit Umweltfaktoren – auf gewisse Strukturen im Gehirn einwirken und so zur Entstehung des Störungsbildes beitragen.
Autismus bei Kindern und Jugendlichen: Zahl gestiegen
Matthias Tendl ist klinischer Psychologe beim Dachverband Österreichische Autistenhilfe und arbeitet diagnostisch mit Kindern und Jugendlichen, bei denen es einen Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung gibt.
Im Gespräch mit dem KURIER erklärt der Experte, warum die Zahl der Autismus-Diagnosen angestiegen ist, welche gängigen Vorurteile über Menschen mit Autismus immer noch in der Gesellschaft herrschen und wie Eltern etwaige Anzeichen von Autismus bei ihren Kindern erkennen können.
KURIER: Inwieweit ließ sich ein Anstieg der Zahl von Kindern mit Autismus in den letzten Jahren beobachten?
Matthias Tendl: Die Inzidenz hat sich auf jeden Fall erhöht. Aktuell liegt man bei der Annahme, dass bei einem von 36 Kindern eine mögliche Autismus-Spektrum-Störung auftritt. Zu meiner Studienzeit galt noch die Angabe 1:100 – die Häufigkeit hat sich also vergrößert.
Gibt es tatsächlich mehr Betroffene oder hat sich schlicht die Sensibilisierung für Autismus verstärkt?
Das Verständnis für die Frage, was Autismus eigentlich ist, ist besser geworden. Auch die Diagnosekriterien haben sich erweitert und sind mitgewachsen. Früher sind überwiegend Menschen mit deutlicherer Symptomatik zur Diagnostik gekommen und die Diagnosekriterien haben sich mehr nach diesen Personen gerichtet. Mit der Zeit ist man sich jedoch der Breite des Autismus-Spektrums bewusst geworden und hat gemerkt, dass auch Personen mit nicht offensichtlicher Symptomatik Schwierigkeiten im Alltag haben können. Man ist daher auch besser im Erkennen geworden.
Die eigentlichen Kernsymptome sind Schwierigkeiten in den Bereichen soziale Interaktion und Kommunikation, sowie ein eingeschränkter Interessensbereich und manchmal stereotype Verhaltensmuster. Neu hinzugekommen ist der Bereich Wahrnehmung mit verschiedenen Über- oder Unterempfindlichkeiten.
Gibt es bei Erscheinungsform und Schweregrad von Autismus "Stufen", die man unterscheidet?
Es gibt keine von-bis-Stufen, aber verschiedene Bereiche. Etwa soziales Verständnis oder sensorische Aspekte wie eine Übersensibilität auf Geräusche – das kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Gibt es eine intellektuelle Beeinträchtigung oder ist das Intelligenzniveau völlig normal? Ist man so sensibel auf Geräusche, dass man nicht mit der U-Bahn fahren kann, oder empfindet man sie eben nur als störend, ohne größere Probleme?
Wie auch bei Kindern ohne Autismus haben manche zudem ein großes Bedürfnis prosozial zu sein, andere haben wieder ein niedrigeres soziales Bewusstsein. Kinder mit Autismus haben aber öfter Schwierigkeiten im sozialen Kontext. Je älter sie werden, desto besser werden sie aber oft im Kompensieren.
"Autismus ist eine Störung von Geburt an"
Was sind die gängigsten Vorurteile bzw. Falschinformationen über Autismus?
Eine gängige Annahme ist, dass Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen nicht sozial sein können oder wollen. Häufige Schwierigkeiten können Missverständnisse in sozialen Situationen oder wenig proaktive Beziehungsgestaltung sein. Oft gibt es aber ein Bedürfnis nach mehr Kontakt, dieser muss nur auch für die betroffene Person passend sein. Durch den meist eingeschränkten mimischen Ausdruck wirken Betroffene aber gefühlsarm. Das stimmt so jedoch nicht – die Gefühle werden nur weniger ausgedrückt.
Ein Vorurteil, teilweise auch im Fachbereich, ist außerdem die Annahme, dass Autismus klar äußerlich sichtbar ist. Viele Menschen mit Autismus haben in ihrer Entwicklung aber gelernt, die sozialen Defizite zu kompensieren und sich anzupassen bzw. zu maskieren, was jedoch anstrengend sein kann. Das ist insbesondere bei weiblichen Personen der Fall.
Bei Eltern besteht oft die Sorge, dass sie an der Autismus-Spektrum-Störung erzieherisch schuld sein könnten. Da Autismus aber eine neurologische Entwicklungsstörung ist, die schon bei Geburt besteht, kann man klar sagen, dass dies nicht der Fall ist.
Wie sieht es mit Stereotypen im schulischen Bereich aus?
Im Schulkontext hört man oft, dass Kinder mit Autismus nicht intelligent wären. Ja, es kann intellektuelle Beeinträchtigungen bei Autismus geben, ebenso wie bei Kindern ohne Autismus. Bei autistischen Kindern wird jedoch schnell geglaubt, sie verstünden eine Frage aufgrund ihrer Intelligenz nicht. Dabei liegt das Problem im sozialen Kontext. Wenn die Lehrperson etwa die ganze Klasse zu einer Tätigkeit auffordert – das autistische Kind aber nicht begreift, dass es ebenfalls gemeint ist. Viele Kinder und Jugendliche mit Autismus tun sich aber mit dem strukturierten Ablauf in der Schule auch leicht.
Anzeichen für Autismus bei Kindern erkennen
Wie schwierig ist es für Eltern, zu unterscheiden, ob das eigene Kind vielleicht nur sehr introvertiert ist oder vielleicht tatsächlich Autismus hat?
Im Alter von vier bis fünf Jahren zeigen sich die Anzeichen deutlicher im Spiel- und Kontaktverhalten, etwa durch häufiges Alleinespielen, wenig Einbinden der Bezugspersonen in Spiele oder auch übermäßige Fixierung auf vereinzelte Personen. Besonders achten kann man auf die Sprachentwicklung: Wenn das Kind im dritten, vierten Lebensjahr nur sehr wenig spricht, kann das doch ein Hinweis sein. Vor allem, wenn es wenig an die Bezugspersonen gerichtet spricht, also oft "Mama, Mama" sagt, aber die Mutter dabei nicht anschaut. Oder wenn es seine Bedürfnisse und Freudenmomente nicht kundtut, etwa nie zu den Eltern geht, um ihnen vielleicht etwas zu zeigen.
Auch zwanghafte Routinen können ein Indiz sein: Viel Ordentlichkeit, aufstellendes Spielverhalten oder ein Bedürfnis nach viel Wiederholung. Betroffene tun sich oft mit spontanen Veränderungen in der Routine schwerer. Im Kindergarten kann man also darauf achten, ob man immer den gleichen Weg nach Hause gehen muss oder gewisse Abläufe vom Kind eingefordert werden.
Buben sind deutlich häufiger betroffen als Mädchen – was sind Gründe dafür? Oder wird Autismus bei Buben einfach eher diagnostiziert als bei Mädchen?
Häufig weisen Burschen mehr wiederholende und stereotype Verhaltensmuster auf und kommen dadurch eher zur diagnostischen Abklärung. Bei Mädchen gibt es diese Verhaltensweisen auch, aber sie zeigen sich öfter zurückhaltend. Ein Grund dafür ist sicher gesellschaftlich bedingt, da auf Mädchen häufig ein größerer Druck lastet, sich anzupassen. Das muss aber nicht immer so sein. Je besser die kognitive und sprachliche Entwicklung, desto weniger zeigen sich diese eindeutigen Verhaltensmuster.
Frühkindliche Diagnostik sehr wichtig
Kann man mit Tests eine Diagnose bekommen?
Ja. Autismus ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die von Geburt an vorhanden ist – da hat also niemand etwas "falsch gemacht". Daher muss man einen genauen Blick auf die frühkindliche Entwicklung werfen, etwa im sozialen Bereich: Hat das Kind Freunde gefunden? Kann es gut reden? Ist es im Gespräch wechselseitig – oder spricht es nur von seinen eigenen Dingen, ohne Interesse an anderen zu haben? Mit dem ADI-R-Interview erfasst man diese Dinge.
Wichtig ist auch die strukturierte Verhaltensbeobachtung. In der Spielsituation, im Gespräch oder bei Aufgaben versucht man, die spezifischen Verhaltensweisen zu erfassen. Diverse Fragebögen und Erkenntnisse aus Vorbefunden ergänzen die Diagnostik.
Wie wichtig ist eine frühkindliche Diagnostik von Autismus?
Sehr wichtig! Gerade bei jenen Kindern, bei denen es äußerlich nicht so offensichtlich ist – die aber spüren, dass sie "anders" sind als andere, dass sie die Welt anders wahrnehmen und vor anderen Herausforderungen in sozialen Kontakten stehen.
- kassenfinanzierte Diagnostik für alle Altersgruppen an (jedoch oftmals mit einer längeren Wartezeit)
- Familienberatung als Erstanlaufstelle
- Sozialberatung für finanzielle Fragen
- Job-Coaching für Jugendliche mit Autismus
- Einzel- oder Gruppenangebote für Betroffene und Angehörige
- Autismusspezifische Therapieformen (diese werden jedoch österreichweit nicht von der Krankenkasse übernommen)
Was, wenn man als Kind keine richtige Diagnose bekommt?
Bekommt man sie erst im Erwachsenenalter, hat man natürlich das Problem, dass man nie entsprechend gefördert wurde – man musste also selbst mit Schwierigkeiten zurechtkommen, von denen man vielleicht gar nicht wusste, dass andere diese nicht haben. Dadurch können sich auch andere psychische Probleme ergeben, da das viele Kompensieren eine Menge Energie kostet. Aufmerksamkeitsstörungen, Depressionen, Ängste und Zwänge treten häufiger zusätzlich auf.
Besonders im funktional-sprachlichen Bereich ist etwa die Logopädie sehr hilfreich. Wichtig ist, dass auch an der Interaktion und dem sozialen Kontext von Sprache gearbeitet wird. Ergotherapie ist aufgrund der individuell anderen Wahrnehmung ebenfalls wichtig, um an der sensorischen Integration zu arbeiten. Das kann besonders bei Problemen in der Selbstregulation hilfreich sein, die gerade im Kindesalter häufiger sind.
Wie äußern sich solche Probleme?
Menschen mit Autismus haben häufiger Schwierigkeiten, ihre Gefühle auszudrücken oder auch selbst wahrzunehmen. Dadurch kann es gerade für Kinder schwer sein, rechtzeitig zu spüren, dass ein Wutausbruch kurz bevorsteht. Daher ist es besonders in jungen Jahren wichtig, dass Eltern, Kindergarten und Schule über die Diagnose Bescheid wissen.
Eine große Stärke von Menschen mit Autismus ist ihre Direktheit, die aber häufig zu Missverständnissen führen kann. Ein Beispiel: In der Schule kann es natürlich sehr unhöflich rüberkommen, wenn die Lehrkraft meint: "Wir gehen jetzt alle raus" und das Kind darauf antwortet: "Ich will aber nicht". Betroffene sehen das als ganz rationale Feststellung, ihnen ist weniger bewusst, wie das Gesagte bei der anderen Person ankommt. Sie meinen es also nicht unhöflich.
Kindergarten wichtig für autistische Kinder
Autismus ist nicht als Krankheit, sondern als Störung der neuronalen Entwicklung klassifiziert und erfordert in dem Sinne keine "heilende" Therapie. Was brauchen Kinder mit Autismus stattdessen?
Viel Verständnis von ihrer Familie und den umliegenden Systemen. Auch Verständnis dafür, was Autismus eigentlich ist, sprich Probleme mit dem sozialen Begreifen, dem pro-aktiven Mitteilen und der wechselseitigen Interaktion. Man muss daher versuchen, ihre sozialen Kompetenzen zu fördern. Kinder mit Autismus wollen ja oft Freunde haben, aber sie wissen nicht, wie. Auch die Routine ist ein wichtiges Thema für diese Kinder: Wenn etwa in der ersten Stunde überraschend eine andere Lehrkraft suppliert, kann das dem Kind mitunter den ganzen Tag ruinieren. Daher sollte man wissen, dass so eine plötzliche Änderung für ein Kind mit Autismus oft sehr verunsichernd sein kann.
Kindergartenplätzen, Unterstützungskräfte im Schulunterricht, Therapieangebote – wie steht es Ihrer Erfahrung nach um das Angebot für Kinder mit Autismus in Österreich?
Es gibt immer mehr spezialisierte Angebote, aber es sind immer noch viel zu wenige. Beispiel Kindergarten: Oft müssen Eltern zwei, drei Jahre auf einen Kindergartenplatz warten, bekommen vielleicht nur im letzten, verpflichtenden Kindergartenjahr einen Platz – manchmal in einem für das Kind passenden Kindergarten, manchmal aber auch in einem Regelkindergarten. Und dann geht es kurze Zeit später schon in die Schule. Das kann natürlich nicht funktionieren. Deshalb ist der Kindergarten gerade für Kinder mit Autismus wichtig, damit sie möglichst früh lernen können, sich an Abläufe anzupassen und mit dem sozialen Kontext umzugehen.
Autismus ist zudem sehr heterogen ausgeprägt, weshalb es oft an individuell angepassten Behandlungsangeboten fehlt. Viele Personen mit Autismus kommen etwa in klassische Gesprächstherapien. Dabei ist dieser Kontext für sie weniger passend, da es Schwierigkeiten in der Gesprächsgestaltung und -initiative gibt.
Welche Form der Behandlung wäre ratsamer?
Es braucht etwas Strukturiertes, wo sie ungefähr wissen, was passiert und wo die behandelnde Person proaktiv auf die Kinder zugeht und ihnen einen Rahmen bietet, sich auszudrücken. Viele Menschen mit Autismus haben Probleme damit, ein Gespräch aufrecht zu halten – außer es dreht sich um ihr spezielles Sonderinteresse. Ist der Gesprächspartner passiv und wartet darauf, dass das Kind zu reden anfängt, wird es wohl eher eine Schweigestunde werden.
Grundlegend ist wichtig, dass die behandelnde Person Kenntnisse über das Autismus-Spektrum hat und die Behandlungsform dahingehend individuell angepasst wird.
Warten auf Therapieplätze
Wie lange warten Kinder in Österreich durchschnittlich auf einen Platz für eine Autismus-Therapie?
Wenn man es sich privat nicht leisten kann, meist recht lange – mehrere Monate bis hin zu ein, zwei Jahren. Gerade durch die Einschränkungen von Autisten braucht die Therapie oft auch mehr Zeit, sprich der Platz ist auch länger belegt. Insbesondere außerhalb von Ballungsräumen ist die Situation sehr schwierig.
In welche Schulen können Kinder und Jugendliche mit Autismus gehen? Gibt es an den heimischen Schulen entsprechende Unterstützungsangebote?
Das hängt ganz von den Kindern und Jugendlichen ab. Welche Schwierigkeiten hat das Kind im sozialen Kontext? Ist es in der Lage, einer Struktur zu folgen? Ist das Kind gar nicht an gemeinsamen, strukturellen Abläufen interessiert, wird es bei der Schulwahl schwieriger. Dann braucht es individuelle Betreuung in einer kleinen Gruppe. Wichtig ist ein Verständnis über das Autismus-Spektrum und eine proaktive Herangehensweise. Manche Sonderinteressen von Kindern mit Autismus können im schulischen Kontext auch Stärken sein. Zum Beispiel, wenn ich besonders an Zahlen und Buchstaben interessiert bin – dann könnte ich für Mathematik begeisterungsfähig sein. Viele Betroffene kommen aber gut durch die Schule und studieren auch.
Lehrpersonen stehen hier ebenso vor einer großen Herausforderung. Selbst wenn sie häufig bemüht sind, ist es zeitlich schwierig, sich individuell um das Kind zu kümmern, ohne die anderen aus den Augen zu verlieren. Es gibt unterstützende Fachkräfte, die man hinzuziehen kann – wenn man denn genug Ressourcen dafür hat.
Wenn man also im ländlichen Raum lebt, wo es keine Kindergärten oder Schulen mit entsprechender Unterstützung gibt …
… dann kann es natürlich passieren, dass das Kind keinen Platz bekommt oder häufig wechseln muss. Mit wenig nachhaltiger Förderung.
Hat Österreich in den letzten Jahren mehr ausgebaut in dieser Hinsicht?
Es tut sich schon einiges, gerade das Bewusstsein für Autismus wächst immer mehr, weg von den alten Stereotypen, die man vielleicht noch aus Filmen kennt. Aber es braucht auf jeden Fall noch viel, viel mehr – und zwar in verschiedensten Bereichen. Vor allem proaktiv – man kann nicht einfach nur darauf warten und hoffen, dass sich spezialisierte Leute vielleicht wo niederlassen. Es fehlt deutlich an Ressourcen, um den Ausbau von autismusspezifischen Strukturen in ganz Österreich voranzutreiben. Da braucht es meiner Meinung nach einen besseren Plan.
Kurz zusammengefasst
- Autismus ist eine neuronale Entwicklungsstörung, die von Geburt an besteht
- Kinder mit Autismus haben Schwierigkeiten mit sozialer Interaktion - und brauchen entsprechendes Verständnis aus ihrem Umfeld
- In Österreich gibt es einige Formen der Unterstützung, das Angebot ist jedoch noch sehr ausbaufähig
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