"Wenn es hell ist, wird alles lauter"

Denise Linke, 25, will mit einem Magazin Einblick in die Welt von Autisten geben .
Denise Linke ist Autistin, davon erfuhr sie zufällig. Mit einem Magazin will sie die Gesellschaft verändern.

Komisch war das. Denise Linke fiel schon früh auf, dass Menschen auf sie anders reagierten. Den Grund dafür konnte sich die Studentin und Journalistin aus Deutschland erst vor einigen Jahren erklären: Psychologen diagnostizierten der damals 22-Jährigen das Asperger-Syndrom – eine Form von Autismus.

KURIER: Bei Ihnen wurde 2011 Asperger diagnostiziert. Wie kam es dazu?

Denise Linke: Ich lebte für drei Monate in Los Angeles, in einem Haus mit 40 Leuten. Ein Mitbewohner hatte Asperger und für ihn war es klar, dass ich das auch habe. Er merkte es, als ein Krankenwagen vorbeifuhr, und wir uns beide die Ohren zuhielten – als einzige im Raum. Er kam dann zu mir und fragte, wann ich denn meine Diagnose bekommen habe. Ich wusste damals nicht, wovon er spricht. Ich ließ mich aber danach testen – das Ergebnis war positiv.

Ein Schockmoment?

Ich habe in den Spiegel geguckt, ob ich jetzt anders aussehe. Zurück in Deutschland habe ich noch einmal einen Test gemacht – er war auch positiv. Ich war erschrocken, weil Autismus in meinen Ohren wie etwas Schlimmes klingt. Mit 22 Jahren hatte ich dasselbe Bild von Autisten kultiviert, das viele Leute haben – etwa das "Rain-Man-Klischee" (In "Rain Man" spielt Dustin Hoffman einen Autisten, siehe unten). Als ich anfing, mich damit zu beschäftigen, stellte ich fest, es ist okay, dass ich anders bin.

Anders sein – wie fühlt sich das an?

Wenn ich unter vielen Menschen bin – und ich treffe mich gerne mit Leuten – ist das anstrengend, ich muss mich danach ausruhen. Ich kann Reize nicht filtern und nehme alles um mich herum gleich wahr. Das Gespräch, das ich gerade führe, das Gespräch, das am Nebentisch stattfindet. Alles ist schnell und hektisch. Meine Sinne vermischen sich: In dem Moment, indem es draußen hell ist, wird alles um mich herum lauter, als es vorher war.

Hat das niemand bemerkt?

Es gibt Leute, die fallen nicht auf. Autismus hat ein breites Spektrum von schwarz bis weiß – mit vielen Grauschattierungen. Manche können sich nicht gut bewegen oder nicht sprechen. Sie haben ein sehr reiches Innenleben, das sie nicht nach außen tragen können.

Interessant, dass es keinem Ihrer Ärzte zuvor aufgefallen ist.

Das passiert häufig. Die Diagnosekriterien ändern sich immer wieder. Oft werden bei Kindern diverse Probleme – etwa bei der Interaktion – wegsozialisiert. Mittlerweile wird Asperger bei Menschen diagnostiziert, die über 40, 50 sind und die sich endlich erklären können, warum ihnen das Leben oft komisch vorkam.

Haben Sie sich das auch gefragt?

Ich habe gemerkt, dass meine Umwelt ein Problem mit mir hatte. Sie hat häufig anders auf mich reagiert, als ich es erwartet hätte (lacht).

Inwiefern?

Mein größtes Problem war Small Talk. Menschen haben dabei fast nie so reagiert, wie ich es erwartet hätte. Besonders spannende Themen schienen sie nicht zu interessieren. Meist kam ich bei Gesprächen mit Schulkameraden schnell an einen Punkt, an dem ich einfach merkwürdig angesehen wurde und das Gespräch war beendet. Ich vermute, dass ich einfach keine Fragen gestellt habe und weiter geredet habe, wenn mein Gegenüber mir zu verstehen gegeben hat, dass er oder sie kein Interesse an dem Thema oder einer Interaktion hat.

Wie sind Freunde und Familie mit der Diagnose umgegangen?

Sie waren überrascht. Meine Familie hat mich gefragt, woher ich das habe. Ich meinte – naja, genetisch von euch (lacht). Meine Mutter war früh überzeugt, dass sie das wahrscheinlich auch hat. Mittlerweile sagt selbst meine Oma: ‚Wenn du Asperger hast, habe ich auch Asperger‘ (lacht). In meinem Freundeskreis wurde das einfach hingenommen, ich habe mich wegen Asperger nicht verändert, ich war vorher genauso.

Sie haben ein Magazin gegründet, das sich auf Autisten fokussiert. Warum?

"Wenn es hell ist, wird alles lauter"
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Die Idee kam mir, als ich unter der Dusche stand und darüber nachdachte, dass ich gerne etwas über Asperger, Autismus oder ADHS lesen möchte (lacht). Gleichzeitig ärgerte ich mich, weil ich wusste, dass es keine Magazine oder Zeitschriften zu dem Thema gibt. Dazu kam, dass ich schon öfters überlegt hatte, wie ich in der Gesellschaft etwas verändern kann – zum Beispiel das Bild von Menschen mit Autismus und ADHS in der Öffentlichkeit.

Was unterscheidet die Artikel von anderen?

Der Blick, den die Geschichten haben, ist ein anderer – das ist das Spannende. Themen wie Liebe, Schule oder Arbeit richten sich an Betroffene, ihre Familien, Freunde, Lebensgefährten und Menschen ohne neurologische Besonderheiten – also "Astronauten", die die Welt einmal so sehen wollen, wie wir es tun.

Wie sieht so eine Geschichte aus dieser Welt aus?

Zum Beispiel, wenn es im Bereich Liebe und Sex um BDSM (Fesselspiele, Bondage, Sadomaso, Anm.) geht, dann erklären die Autoren, warum dies für Autisten besonders reizvoll ist und häufiger vorkommt als in der Normalbevölkerung.

Warum ist das so?

Ich glaube, es liegt an der klaren Rollenverteilung. Man weiß ganz klar, der eine ist devot, der andere dominant. Man hat eine Rolle, in der man sich bewegt und bekommt in dem Moment klare Ansagen. Die Berührungen sind keine leichten, die für Autisten häufig anstrengend sind, sondern sehr greifbare und feste Berührungen, die als angenehmer empfunden werden.

Autismus ist ja mit vielen Klischees behaftet. Was nervt Sie am meisten?

Mich stört das Bild vom gewaltbereiten Bekloppten, der einen Amoklauf an seiner Schule verübt, weil er Asperger hat. Dieses Vorurteil hält sich leider hartnäckig. Ich gehe trotzdem offen mit diesen Klischees um – in der Hoffnung, dass die Menschen merken, dass ich normal und nicht irre bin, wenn sie mich kennenlernen. Mich stört es auch nicht, wenn sie mich fragen, ob wir ins Casino gehen und Karten zählen – viele denken, ich habe außergewöhnliche Fähigkeiten (lacht). Diese Fragen kommen oft vor, wobei ich nicht unterscheiden kann, ob es ein Witz oder Ernst ist.

Zur Person:

Denise Linke, geboren 1989, hat nach ihrem Abitur in Hamburg, Berlin und Potsdam Politikwissenschaften und Zeitgeschichte studiert. 2006 erschien ihr Buch „Lass mich doch mal ausreden“. Neben ihrer Ausbildung absolvierte sie Hospitanzen bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und bei Zeit Online. Ihr Magazin N#mmer erscheint Mitte Oktober/November mit Hilfe eines Verlags, Crowdfunding und Sponsoren.

Autismus ist eine angeborene Entwicklungsstörung, ausgelöst durch Veränderungen im Gehirn, die zu Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen führen. Manche haben schwere, andere nur leichte Entwicklungsstörungen. In Österreich sind etwa ein Prozent der Bevölkerung (zirka 80.000) von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen. Die Österreichische Autistenhilfe erklärt auf ihrer Webseite, dass Menschen mit Autismus einem Chaos verschiedener Sinneseindrücke ausgeliefert sind, was zu für Außenstehende unverständlichen Verhaltensweisen führt.

Eine Form von Autismus ist das Asperger-Syndrom, benannt nach dem österreichischen Kinderarzt Hans Asperger, der es 1944 als Erster beschrieb. Für Betroffene ist es schwer, Umweltreize – akustische, optische, taktile – zu filtern. Manche können auch Emotionen nur schwer äußern oder erkennen. Asperger ist aber nicht nur mit Beeinträchtigungen, sondern auch mit Stärken verbunden: Menschen nehmen Details wahr oder haben ein ausgeprägtes Gedächtnis. Das erkennen auch Unternehmen. Eine IT-Firma aus Berlin etwa lässt sie Software testen. "Savants", Menschen mit außergewöhnlichem Talent, kommen selten vor. Derzeit sind weltweit 100 Menschen bekannt. Kim Peek (1951–2009) wurde berühmt, weil er den Inhalt von 12.000 Büchern kannte, obwohl er sie nur einmal gelesen hat. Seine Figur war Vorlage für den Film "Rain Man", mit Dustin Hoffmann in der Hauptrolle.

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