Schlaue Kinder dank Vitamin D? Was das Multitalent wirklich kann
Die Wissenschaft fördert oft Erstaunliches zutage – und das in erstaunlicher Menge. Sucht man in der wissenschaftlichen Datenbank Pubmed nach "Vitamin D", werden allein seit 2015 20.000 Studien gelistet, die sich mit der Substanz befassen.
Das Forschungsinteresse an Vitamin D, das im menschlichen Körper großteils über die Haut unter Einwirkung von Sonnenlicht gebildet wird, ist in der Tat enorm, bestätigt Karin Amrein, Endokrinologin und Vitamin-D-Expertin von der MedUni Graz. Sie selbst untersucht aktuell mit einer groß angelegten internationalen Studie, ob die hoch dosierte Gabe bei kritisch Kranken mit schwerem Mangel die Überlebenschance erhöhen kann.
Wunderwuzzi
In Kombination mit Kalzium ist Vitamin D wichtig für die Knochen, genauer gesagt für deren Aufbau und Erhalt. Auch bei der Zahnentwicklung spielt es eine wesentliche Rolle, beim Mineralstoffwechsel und für die Muskelfunktion ebenso.
"Weil es von sehr vielen Zellen verwendet wird, liegt die Annahme eines breiten Nutzenprofils nahe", sagt Amrein. In der Herstellung ist Vitamin D zudem kostengünstig. "Und ein Mangel ist in unseren Breiten weit verbreitet, was das Interesse an potenziell negativen Effekten eines Defizits steigert."
Ohne ausreichend Vitamin D funktioniert das Immunsystem nicht optimal. Gerade in Zeiten, in denen ein pandemischer Erreger grassiert, rückt Vitamin D daher verstärkt in den Fokus. Dass es Atemwegsinfektionen vorbeugt, ist wissenschaftlich bewiesen. "Solide Daten zeigen, dass es bei akuten Atemwegsinfekten, aber auch bei Lungenvorerkrankungen wie Asthma und COPD präventiv wirkt."
Zu Covid-19 gibt es erste Beobachtungsstudien, die belegen, dass ein Großteil der hospitalisierten Patienten einen Mangel aufweist. "Noch viel wichtiger sind zwei kleine Interventionsstudien aus Spanien und Frankreich, die dafürsprechen, dass Vitamin D die Prognose bei älteren Betroffenen mit schwerem Verlauf verbessert."
Die Österreichische Gesellschaft für Ernährung hat 2012 die Empfehlung für die tägliche Zufuhr für Kinder, Jugendliche und Erwachsene bis 65 Jahren von fünf auf 20 Mikrogramm, das entspricht 800 Einheiten, angehoben. Bei Menschen mit hohem Risiko für einen Mangel oder bei Patienten mit Begleiterkrankungen reicht das oft noch nicht aus.
Ein Mangel wird per Bluttest bestimmt. Eine Ergänzung nützt nur dann, wenn tatsächlich ein Defizit besteht, sagt Expertin Amrein: "Mehr als genug hilft in diesem Fall nicht mehr."
Fisch und TropfenIn lichtreichen Monaten genügt es, 20 bis 30 Minuten pro Tag mit uneingeschmierten Armen und Gesicht in die Sonne zu gehen. Durch die wenigen Sonnenstunden kommt es im Herbst und Winter zu einer Unterversorgung. Ergänzungsmittel können Abhilfe schaffen. Wie Vitamin D ergänzend zugeführt wird (Spray, Tabletten, Tropfen), ist unerheblich, sagt Amrein: "Wichtig ist, dass man täglich ergänzt. Vitamin D in Riesendosen zuzuführen, davon rate ich ab. Das passiert auf natürlichem Weg über die Sonne auch nicht."
Über die Nahrung nimmt der Durchschnittsösterreicher rund 100 Einheiten Vitamin D pro Tag zu sich. Vitamin-D-reich gelten Eier, Avocados und fette Fische wie Hering, Makrele oder Wildlachs.
Gut für Schwangere
Besonders groß scheint der wissenschaftliche Eifer, wenn es um die Wirkung von Vitamin D bei Schwangeren , beziehungsweise den langfristigen Effekt auf deren Sprösslinge, geht.
In jüngeren Studien vermuten Forschende Zusammenhänge zwischen einem Mangel bei werdenden Müttern und späterem Übergewicht, einem geringeren IQ, Autismus-ähnlichen Verhaltensweisen sowie einem erhöhten Schizophrenie-Risiko beim Nachwuchs. Amrein: "Das Problem ist, dass diese Studien keine Beweise zur ursächlichen Wirkung von Vitamin D liefern. Ein Vitamin-D-Mangel kann allgemein ein Marker für einen ungesunden Lebensstil, Übergewicht oder Bewegungsmangel sein. Herauszudestillieren, ob sich der Vitamin-D-Spiegel der Mutter wirklich auf das Kind auswirkt, ist sehr schwierig."
Zuverlässige Daten gebe es zur Vitamin-D-Versorgung und Schwangerschaftskomplikationen: Es treten nachweislich weniger Komplikationen auf, wenn die werdende Mutter gute Werte hat. Ein Kind auszutragen und zu stillen belastet auch den mütterlichen Kalziumhaushalt.
Im Jahr 2016 fand eine Studie Beachtung, in der Forscher zu dem Schluss kamen, dass Brandverletzungen bei höherem Vitamin-D-Level schneller heilen. Amrein hält das für plausibel: "Das dürfte über das Immunsystem laufen. Die Wundheilung ist eine Funktion der Immunabwehr." Gerade bei Brandverletzungen treten oft Wundheilungsstörungen auf. Weil der Körper nach einer schweren Verbrennung Energie aus körpereigenen Depots für das Aufrechterhalten von Organfunktionen bereitstellen muss, kann es auch zum Verlust an Muskel- und Knochenmasse kommen. "Außerdem dürfen Patienten mit großflächigen Brandwunden nach der Heilung mit diesen Körperteilen nicht mehr in die Sonne – das bedeutet, dass weniger Vitamin D über die Haut aufgenommen wird."
Krebs bekämpfen
Die International Agency for Research on Cancer schätzt die Zahl der Krebstoten weltweit für das Jahr 2018 auf rund zehn Millionen. Nicht selten wird Vitamin D zur Vorbeugung angepriesen. "Das ist eine Hoffnung, die sich bislang durch keine Forschungen bestätigen ließ", betont Expertin Amrein.
In einer Cochrane Review wurde aber 2014 zuverlässige Evidenz erbracht, dass Vitamin D die Krebssterblichkeit reduziert. "Vor allem bei älteren Frauen gibt es traumhafte Daten, die zeigen, dass Vitamin D die Sterblichkeit reduziert." Im klinischen Alltag sollten Krebspatienten daher 1.000 bis 2.000 Einheiten Vitamin D täglich einnehmen.
In den Wintermonaten soll das Sonnenvitamin Stimmungstiefs lindern. Ein laienhafter Irrglaube? "Mir sind dazu keine Daten bekannt", sagt Amrein, "Vitamin D kann nicht alles heilen". Die Idee, dass es vor dem winterlichen Blues bewahrt, stamme wohl daher, dass frische Luft, Bewegung im Freien und das Einfangen des spärlichen Sonnenlichts psychisch Auftrieb geben.
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