Gefühle und Gesundheit: Wie sich Schlafmangel auf Dauer auswirkt
Ein Termin um 22.30 Uhr? Mit dem Eintrag „schlafen gehen“? – „Das hat wahrscheinlich niemand in seinem Kalender stehen“, sagt die Neurologin und Schlafmedizinerin Anna Heidbreder. Doch das sei nur ein Zeichen für ein großes Manko unserer Gesellschaft: „Wir planen alles Mögliche – aber unserem Schlafbedürfnis schenken wir viel zu wenig Beachtung.“ Sie erklärt im KURIER-Gespräch, warum ein anderer Faktor noch bedeutender ist als die Gesamtdauer des Schlafes und warum Melatonin-Gummibärchen nichts für Kinder sind.
➤ Mehr lesen: Besser schlafen: Was bringen App, Podcast und Sleep Streaming?
Dass man bei Schlafmangel nicht gut drauf ist, „hat jeder schon gespürt“, sagt die stellvertretende Leiterin der Uni-Klinik für Neurologie des Kepler Uni-Klinikums Linz. Die American Psychological Association hat nun Daten zum Thema „Schlafmangel und Stimmung“ aus den vergangenen 50 Jahren neu ausgewertet: Am deutlichsten war der Rückgang positiver Emotionen wie Freude, Glück oder Zufriedenheit. Nicht ganz so signifikant, aber trotzdem deutlich nachweisbar, war ein Anstieg von Angstgefühlen und Besorgnis.
"Ein hochaktiver Zustand"
„Viele glauben, Schlaf ist ein inaktiver Zustand – im Gegenteil: Er ist ein hochaktiver Zustand des Gehirns. Er reinigt es von Substanzen, die sich während des Tages angesammelt haben, das Immunsystem arbeitet, der Körper erholt sich.“ Angesichts der vielen Funktionen des Schlafs sei es auch total naheliegend, dass Schlafentzug einen Einfluss auf unsere positiven Emotionen habe.
Und wieso auch auf die negativen? „Das hat viel damit zu tun, dass ein nicht erholtes Gehirn auf die äußeren Einflüsse, die wir filtern müssen, nicht so flexibel reagieren kann. Das Gehirn ist damit rascher überlastet und überfordert – und das kann dazu beitragen, dass Angst entsteht.“
➤ Mehr lesen: Neues Medikament: Hoffnung für die Schlaflosen
Solche negativen Effekte zeigten sich bereits nach kurzen Perioden des Schlafverlusts, etwa wenn Teilnehmer an den ausgewerteten Studien eine oder zwei Stunden länger als gewöhnlich aufblieben.
Wobei Heidbreder betont, dass der Zeitraum, den man kontinuierlich schläft, wahrscheinlich eine viel größere Bedeutung hat als die Gesamtdauer des Schlafs: „Es gibt Menschen, die sind nach fünf Stunden Schlaf am Stück erholter als andere, die zwar insgesamt acht Stunden schlafen, aber zwischendurch immer wieder wache Phasen haben.“ Bei den häufig genannten Empfehlungen für die Schlafdauer (siehe unten) handle es sich um Mittelwerte, die für einen großen Teil der Bevölkerung zutreffen: „Kommt jemand mit fünf Stunden aus und empfindet das nicht als Belastung, dann sind wahrscheinlich keine negativen gesundheitlichen Folgen zu erwarten.“
Schlafstörungen
Wer an mindestens drei Nächten pro Woche und mehr als drei Monate hindurch von Ein- und Durchschlafstörungen betroffen ist, die die Lebensqualität beeinträchtigen, hat eine Schlafstörung, die behandelt werden sollte, betont Medizinerin Heidbreder.
Häufigkeit
Zehn Prozent der Bevölkerung sind von einer solchen chronischen Schlafstörung (Insomnie) betroffen. Gelegentliche Schlafstörungen treten bei 25 bis 30 % der Bevölkerung auf – bei Frauen öfter als bei Männern.
Schlafdauer
Fachgesellschaften empfehlen – als Durchschnitt – zwischen sieben und neun Stunden. Männer kommen meist mit sieben bis acht aus, Frauen benötigen im Schnitt acht bis neun Stunden.
Schlaflabore
Eine Liste aller durch die Österreichische Gesellschaft für Schlafmedizin und Schlafforschung zertifizierter Schlaflabore sowie Patienteninformationen finden sich unter www.schlafmedizin.at
Schlaftipp
„Versuchen Sie, den Tag ruhig ausklingen zu lassen, alle Sorgen und Probleme vor dem Zubettgehen durchzugrübeln und nicht im Bett. Reduzieren Sie das Licht und Ihre Aktivität. Einschlafen ist ein magischer Moment, der nur dann funktioniert, wenn man auch geistig zur Ruhe kommt und eine gewisse Gelassenheit gegenüber dem Schlaf entwickelt“, rät Heidbreder. „Rituale und regelmäßige Abläufe können, so wie bei Kindern, auch bei Erwachsenen das Einschlafen erleichtern“.
Und die können bei chronischem Schlafmangel relevant sein: Darunter fallen ein erhöhtes Risiko für Depressionen ebenso wie für Herzkreislauf- und wahrscheinlich auch Krebserkrankungen, Diabetes bis hin zu Demenz. Bei Personen mit behandlungsbedürftigen, chronischen Ein- und Durchschlafstörungen sei zumeist eine kognitive Verhaltenstherapie das Mittel der ersten Wahl: „Das ist letztlich eine Art Schlaftraining, das hilft, wieder schlafen zu lernen.“
Umdenken durch die Vermessung des Schlafs
Beim Schlafmangel als Folge des Lebensstils sieht Heidbreder aber Zeichen eines Umdenkens: „Gesellschaftlich lange anerkannte Aussagen wie ‚Wer wenig schläft, leistet mehr‘ werden zunehmend hinterfragt.“ Dazu hat auch der Boom der Schlaftracker – meist in Form von Armbändern, die Ruhe und Aktivität aufzeichnen – beigetragen.
➤ Mehr lesen: Schlafforscherin Högl: "Nach der Zeitumstellung steigt die Unfallrate"
„Man darf die Daten aber nicht überinterpretieren. Tiefschlaf zum Beispiel kann man nur mittels EEG im Schlaflabor exakt bestimmen. Aber die Tracker zeigen Trends an und wecken das Bewusstsein für die Bedeutung des Schlafs.“ Und manche Schlafbewusste hätten bereits einen täglichen Abendalarm eingespeichert: „Zeit zum Schlafengehen!“
Melatonin-Kaubonbons sind nichts für Kinder
Ein von Schlafmedizinerinnen und Medizinern sehr kritisch gesehener Trend ist der unkontrollierte Einsatz von Melatonin-Präparaten, besonders bei Kindern. Wer im Internet nach „Melatonin Gummis“ oder „Melatonin Kaubonbons“ sucht, stößt rasch auf zahlreiche, rezeptfreie Nahrungsergänzungsmittel mit dem „Nacht-Hormon“ Melatonin. Laut einer US-Studie erhält in den USA bereits jedes fünfte Kind Melatonin vor dem Schlafengehen.
➤ Mehr lesen: Bringt das Schlafhormon Melatonin Kinder in Gefahr?
Schlafmedizinerin Heidbreder: „Bei Kindern sehe ich das sehr kritisch. Melatonin ist ein Medikament, das sie nicht einfach so über ein Nahrungsergänzungsmittel erhalten sollten.“ Einerseits hätten Untersuchungen gezeigt, dass die tatsächlich enthaltenen Mengen oft nicht mit den Packungsangaben übereinstimmen: „Und dann wissen wir gerade bei Kindern noch viel zu wenig über Risiken und Nebenwirkungen.“ Zwar könne es Fälle geben, wo bei bestimmten Erkrankungen ein Kinderarzt vorübergehend ein Melatoninpräparat verschreibt: „Aber das ist etwas komplett anderes, als Kindern einfach so Melatonin zu verabreichen, damit sie am Abend ruhiger werden.“
Melatonin sei auch kein Schlafmittel im eigentlichen Sinn „und wirkt nicht wirklich schlafanstoßend“, sagt Heidbreder. Dem Gehirn werde lediglich signalisiert, dass jetzt die Zeit zum Schlafen sei.
Heidbreder rät auch bei Erwachsenen von frei verkäuflichem Melatonin oder CBD-Tropfen (Cannabidiol) eher ab. „Besser ist es, bei Schlafstörungen nicht zu lange zu warten und sich nicht selbst mit freiverkäuflichen Präparaten in Eigenregie zu behandeln, sondern frühzeitig professionelle Hilfe aufzusuchen.“ Andernfalls könne sich eine chronische Schlafstörung entwickeln: „Diese kann dann viel schwieriger zu behandeln sein als Schlafprobleme im Frühstadium. Selbstmedikation hingegen löst nichts.“
Kommentare