Melatonin wird auf natürliche Weise in der Zirbeldrüse im Gehirn produziert. Steigt der Spiegel im Blut an, löst das einen Schlafimpuls im Körper aus – man wird müde. "Wir sagen nicht, dass Melatonin unbedingt schädlich für Kinder ist. Aber es muss noch viel mehr geforscht werden, bevor wir mit Sicherheit sagen können, dass die langfristige Einnahme sicher ist", wird Hauptautorin Lauren Hartstein von der University of Colorado Boulder in einer Aussendung zitiert.
In den USA ist Melatonin als Nahrungsergänzungsmittel freiverkäuflich. In Österreich ist Melatonin sowohl als Nahrungsergänzungsmittel als auch als verschreibungspflichtiges Arzneimittel erhältlich. "Eine generelle Festlegung der zulässigen Höchstmengen von Melatonin in Nahrungsergänzungsmitteln wurde gesetzlich nicht vorgenommen", heißt es vonseiten der Österreichischen Apothekerkammer auf KURIER-Anfrage. Deshalb könne es auch vorkommen, "dass Melatonin in zugelassenen Arzneispezialitäten geringer dosiert sein kann als am Markt erhältliche Nahrungsergänzungsmittel". Die Apothekerkammer betont weiter: "Aus diesem Grund ist es besonders wichtig, sich in der Apotheke beraten zu lassen."
Zusammen mit ihrem Team hat sich Hartstein für die USA jedenfalls angesehen, wie sich die Nutzung von Melatonin in den vergangenen Jahren verändert hat. So gaben in den Jahren 2017 und 2018 nur etwa 1,3 Prozent der US-Eltern an, ihren Kindern Melatonin zu geben. "Im Jahr 2022 bemerkten wir plötzlich, dass viele Eltern uns mitteilten, dass ihr gesundes Kind regelmäßig Melatonin einnimmt", so Hartstein, die erforscht, wie sich Umweltreize auf die kindliche Schlafqualität und Melatoninproduktion auswirken.
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In der ersten Hälfte des Jahres 2023 befragte man dann erneut rund 1.000 Eltern. Laut Angaben der befragten Eltern hatten 18,5 Prozent der Kinder im Alter von fünf bis neun Jahren in den vorangegangenen 30 Tagen Melatonin eingenommen. Bei den 10- bis 13-Jährigen stieg diese Zahl auf 19,4 Prozent. Und auch knapp sechs Prozent der Vorschulkinder im Alter von einem bis vier Jahren hatten im letzten Monat Melatonin genommen.
Missstände bei Dosis-Angaben auf Produkten
Es zeigte sich auch: Je älter das Kind, desto höher die Dosierung. Wobei Vorschulkinder zwischen 0,25 und zwei Milligramm und Jugendliche sogar bis zu zehn Milligramm Melatonin einnahmen.
Stichwort Dosis: Erst im April dieses Jahres offenbarte eine Studie Falschangaben seitens der Hersteller von Melatonin-Produkten. Von 25 untersuchten Melatonin-Kaubonbons enthielten 22 davon andere Mengen als auf dem Etikett angegeben. Eines enthielt mehr als das Dreifache der angegebenen Menge. Ein Produkt enthielt überhaupt kein Melatonin. Außerdem wurde festgestellt, dass einige Melatonin-Nahrungsergänzungsmittel auch andere potenziell bedenkliche Stoffe enthalten, etwa Serotonin.
Potenziell schädlich für die Entwicklung
"Die Eltern wissen möglicherweise nicht, was sie ihren Kindern geben, wenn sie diese Präparate verabreichen", präzisiert Hartstein.
Bereits in der Vergangenheit haben Fachleute Bedenken geäußert, dass die Gabe von Melatonin bei jungen Menschen, deren Gehirn und Körper sich noch in Entwicklung befinden, den Zeitpunkt des Einsetzens der Pubertät beeinflussen könnte. Kleine Studien, die diesen Effekt untersuchten, lieferten jedenfalls widersprüchliche Ergebnisse.
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Besorgniserregend ist auch ein Bericht der US-amerikanischen Seuchenschutzbehörde aus dem vergangenen Jahr. Demnach ist die Zahl der Anrufe bei Giftnotrufzentralen wegen der Einnahme von Melatonin durch Kinder zwischen 2012 und 2021 um 530 Prozent rasant angestiegen. Der größte Anstieg erfolge zwischen 2019 und 2020. Bei den meisten Anrufen ging es um Kinder unter fünf Jahren, die versehentlich besagte Gummibärchen gegessen hatten, die nicht außer Reichweite des Nachwuchses aufbewahrt worden waren.
Nutzen und Risiken abwägen
Zurück zur aktuellen Studie: Melatonin kann, sofern es unter ärztlicher Aufsicht verwendet wird, kurzfristig eine nützliche Hilfe sein, sagt Mitautorin Julie Boergers, Psychologin und Schlafspezialistin an der Brown University. Insbesondere bei Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störung oder schwerwiegenden Schlafproblemen.
"Aber es ist fast nie die Behandlung der ersten Wahl", so Boergers, die in erster Linie Maßnahmen zur Verhaltensänderung empfiehlt. "Obwohl es in der Regel gut verträglich ist, sollten wir bei der Anwendung von Medikamenten oder Nahrungsergänzungsmitteln bei jungen, sich entwickelnden Körpern immer vorsichtig sein." Anekdotisch habe sie von Eltern zudem gehört, dass Melatonin-Präparate anfangs oft gut wirken, die Kinder aber mit der Zeit höhere Dosen benötigen, um die gleiche Wirkung zu erzielen.
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Die frühe Gabe könnte auch aus psychologischer Sicht problematisch sein, so Hartstein: "Es könnte die Botschaft vermitteln, dass eine Pille die Lösung ist, wenn man nicht schlafen kann."
Zwar sei die neue Studie relativ klein und nicht unbedingt für die landesweite Verwendung repräsentativ. Dennoch ist Hartstein überzeugt: "Wenn so viele Kinder Melatonin einnehmen, deutet das darauf hin, dass es eine Menge zugrunde liegender Schlafprobleme gibt, die angegangen werden müssen. Das Symptom zu bekämpfen, heißt nicht unbedingt, die Ursache zu bekämpfen."
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