Corona-Pandemie: "Die schlimmste Phase sollte jetzt vorbei sein"
Der Datenanalytiker und Komplexitätsforscher Peter Klimek ist assoziierter Professor an der MedUni Wien und an der Forschungseinrichtung Complexity Science Hub Wien (CSH).
KURIER: Herr Dr. Klimek, viele fragen sich jetzt: War es das mit der Pandemie?
Peter Klimek: Wenn man sich noch erlauben darf, kurz optimistisch zu werden, dann könnte man sagen: Das sollte es gewesen sein mit großflächigen Lockdowns, großflächigem Zusperren von Gastronomie, Handel, Schulen und all diesen Sachen. Dieses Kapitel der Pandemie sollen wir beendet haben. Vorausgesetzt, und das sind die Unsicherheitsfaktoren, dass wir keine neuen Probleme mit neuen Varianten entwickeln und die Impfbereitschaft nicht nachlässt.
Wichtig ist jetzt aber, nicht zu signalisieren, die Pandemie sei vorbei. Wir können uns Öffnungsschritte erlauben, aber wir müssen damit auch entsprechend verantwortungsvoll umgehen. Es muss klar sein, dass das momentan noch kein Selbstläufer ist, weil dafür sind wir auch mit den Impfungen noch nicht weit genug. Aber dank ihrer zunehmenden Verfügbarkeit sollte die schlimmste Phase der Pandemie vorbei sein.
Und natürlich wird man in Zukunft Covid-19 so wie jede andere Infektionskrankheit weiter kontrollieren müssen. Eine besondere Vorsicht bei Risikopatienten, älteren Menschen, die Trennung von Infekt- und Nicht-Infektpatienten in den Spitälern, all das wird natürlich bleiben. Und es ist natürlich nicht auszuschließen, dass es, so wie bei der Grippe, auch immer Jahre mit höheren Wellen geben wird.
Erwarten Sie durch die Öffnungen vor dem Sommer nochmals einen Anstieg der Infektionszahlen?
Die Modellierungen zeigen, dass nicht auszuschließen ist, dass es nochmals zu einem Anstieg kommt, aber ausgemacht ist das nicht. Das Beispiel Vorarlberg legt nahe, dass es sicherer gewesen wäre, abgestuft zu öffnen. Allerdings hat man auch in Vorarlberg mit den Ausreisetests und dank des immer stärker werdenden saisonalen Effekts das Infektionsgeschehen jetzt in den Griff bekommen. Derzeit können wir nicht mit Sicherheit sagen, ob bis zum 19. Mai der saisonale Effekt und der Impfeffekt schon um so viel stärker geworden sind, um einen Anstieg der Infektionszahlen gänzlich auszuschließen.
Sieht man sich die Daten genauer an, dann zeigt sich, dass für die rückläufige Entwicklung, die wir derzeit sehen, die wahrscheinlichste Erklärung der saisonale Effekt und noch nicht der Impfortschritt ist. Beim Impfen sind wir einfach noch nicht weit genug, dass sich das schon auf die Infektionskurve durchschlägt. Bei der Sterblichkeit hingegen sehen wir schon einen Effekt. Aber vor allem bei den kontaktfreudigsten Altersgruppen ist die Impfrate einfach noch zu gering, als dass wir damit jetzt schon die Infektionszahlen senken könnten.
Wenn jetzt auch viele Hochrisikobereiche wie etwa die Innengastronomie geöffnet werden, kann schon noch einmal eine Dynamik entstehen. Deshalb müssen diese Öffnungen mit den entsprechenden Schutzmaßnahmen wie das großflächige Testen begleitet werden, insbesondere solange die Bevölkerung noch nicht großflächig durchgeimpft ist.
Wie groß ist dieser saisonale Effekt tatsächlich?
Das ist schwer zu sagen, weil wir nicht wissen, welche Komponenten in welchem Ausmaß eine Rolle spielen: Ist es nur die Verlagerung der Aktivitäten von drinnen nach draußen? Wird das Virus bei zunehmendem Sonnenlicht rascher inaktiviert? Ist die Dynamik der Aerosole (Tröpfchenkerne, Anm.) eine andere? Liegt es am Immunsystem?
In mehreren Studien wird der dämpfende Einfluss auf die Infektionen mit maximal rund 20 Prozent angegeben. Aber für eine bestimmte Region anzugeben, welcher Faktor welche Rolle spielt, das wissen wir bis jetzt nicht – und deshalb sind alle mit Angaben sehr vorsichtig. Aber eine Hilfe ist er auf jeden Fall – das haben wir im vergangenen Sommer gesehen und sehen wir jetzt gerade auch.
Woran kann man erkennen, dass der saisonale Effekt eine entscheidende Rolle spielt?
Viele mitteleuropäische Nachbarländer liegen derzeit, was die Inzidenz betrifft, fast genauso wie Österreich. Wenn sich so eine gleichförmige Entwicklung einstellt, ist die wahrscheinlichste Erklärung natürlich ein Umweltfaktor. Den ganzen Winter nämlich haben wir gesehen, dass die Lage in diesen Ländern höchst unterschiedlich war. Aber momentan geht alles auf eine Kurve zusammen. Das legt schon nahe, dass sich das Virus in die Sommerpause verabschiedet.
Ist im Herbst mit einer vierten Welle zu rechnen?
Wir werden das Virus natürlich im Herbst nochmals wiedersehen – selbst dann, wenn keine neue besorgniserregende Variante entsteht, die die Impfungen weniger wirksam macht. Einfach aus dem Grund, weil die Schwelle zur Herdenimmunität bei der dominierenden britischen Variante so hoch liegt, dass wir mit der zu erwartenden Impfbereitschaft und ohne Impfung der Kinder es einfach nicht schaffen werden, diese Schwelle in diesem Herbst zu erreichen. Selbst im besten Fall, dass es keine neuen Varianten gibt, werden wir wieder eine höhere Infektionsdynamik sehen.
Und da ist dann die Frage, wie weit wir bis dahin tatsächlich mit den Impfungen sind – davon wird es abhängen, ob es nochmals zu einer größeren Welle kommt, die das Gesundheitssystem belastet. Und wir dürfen auch nicht vergessen: Nachdem die Influenza diese Saison ausgelassen hat, könnte es im kommenden Winter auch wieder eine größere Influenzawelle geben. Es wird also im Herbst noch einiges an Herausforderungen auf uns zu kommen. Das Wichtigste wäre, dass wir aus den Fehlern des vergangenen Herbstes lernen.
Was meinen Sie damit?
Dass wir es im Herbst zugelassen haben, dass die Situation derart entgleitet. In Wahrheit sind wir das Ganze vergangene halbe Jahr deshalb nicht wirklich vom Fleck gekommen, weil wir in der Hochinzidenzfalle waren: Jeder Öffnungsschritt hat zu einem sofortigen neuen Anstieg geführt, der dann gleich wieder das Gesundheitssystem bedroht hat. Und die Lockdowns sind dann nicht mehr breit genug mitgetragen worden, als dass sie wirklich dauerhaft zu einer Erleichterung der Situation geführt hätten.
Andere Länder, die einfach gewillt waren, schon viel früher Maßnahmen zu setzen und nur niedrigere Inzidenzen akzeptieren, sind mit viel weicheren Maßnahmen und damit vermutlich auch mit niedrigeren wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgeschäden durch die Krise gekommen. Und da rede ich jetzt gar nicht von Ländern wie China, Australien, Vietnam, Japan, Südkorea oder Singapur. Da brauchen wir uns nur etwa Finnland oder Norwegen anzuschauen, die einfach eine Strategie verfolgt haben, nicht erst auf eine Überlastung des intensivmedizinischen Bereichs zu warten, bevor man wirklich mit entsprechenden Gegenmaßnahmen beginnt. Wenn jetzt einmal die akute Situation etwas abgekühlt ist, sollten wir uns in den kommenden Wochen und Monaten überlegen, welche Lektionen wir uns da abschauen können.
Also früher – und vielleicht auch härter – zu reagieren?
Das ist ein Missverständnis, das ich oft höre: Es muss nicht härter sein. Es hätte gereicht, so zu reagieren, wie wir das gemacht haben, nur bereits bei niedrigeren Inzidenzen – niedriger als 100. Wenn man die Kontrolle bei niedrigeren Fallzahlen versucht, braucht man sogar weniger scharfe Maßnahmen, einfach deshalb, weil die Maßnahmen, die wir setzen müssen, zeitlich und regional beschränkter sind. Dann funktioniert die Kontaktnachverfolgung besser, dann lässt sich das Infektionsgeschehen genauer eingrenzen und auch die Maßnahmen lassen sich regionalisierter beschränken, sprich: Man muss nur jene Regionen mit Maßnahmen belegen, wo die Infektionszahlen wirklich höher sind. Und damit beschützt man auch die umliegenden Regionen.
Sie haben hier die Ausreisetests als wirksame regionale Maßnahme ins Spiel gebracht?
Ja, aber die Ausreisetests stehen auch als Symbol für stärker und stärker regionalisierte Maßnahmen. Ausreisetests sind vor allem für den ländlichen Bereich ein gut funktionierendes Mittel. Im Großstadtbereich könnte es künftig auch ein noch weiter verstärkter Einsatz der Gurgel-PCR-Tests sein. In Asien hat man es mit einer sehr guten Datenerfassung auch geschafft, Maßnahmen im städtischen Bereich auf einzelne Häuserblöcke oder einzelne Viertel zu beschränken. Ob das auch für Österreich ein gangbarer Weg ist, da bin ich zurückhaltend.
Was sagen Sie zu den Sorgen von Eltern von Schul- und Kindergartenkindern, die jetzt fürchten, dass sich in den letzten Wochen vor einer Impfung die Kinder anstecken und eine Infektion nach Hause tragen?
Natürlich kann man nicht ausschließen, dass es vereinzelt zu Ansteckungen und auch Clustern kommt. Durch die derzeit deutlich sinkenden Infektionszahlen reduziert sich allerdings auch das Risiko von Infektionen in Schulen und Kindergärten. In Abwägung mit den Kollateralschäden durch noch länger andauerndes Homeschooling halte ich es für vertretbar, einen vollen Schulbetrieb ab 19. Mai zu ermöglichen.
Kommentare