Experten über neue Virusvariante: "Wir haben ein großes Problem"

In England breitet sich die neue Virusvariante derzeit rasch aus, die Spitalsaufnahmen steigen deutlich an.
Experten warnen davor, die neue infektiösere Variante des Coronavirus zu unterschätzen. Die Maßnahmen zur Kontrolle der Virusausbreitung müssten verstärkt werden.

Nach und nach werden mehr Fakten zu der neuen, infektiöseren Variante B.1.1.7 des Coronavirus bekannt, die sich derzeit vor allem in Großbritannien massiv vom Südosten Richtung Nordengland und Wales ausbreitet. In vielen Teilen Englands belegen Covid-19-Patienten bereits mehr als die Hälfte aller Spitalsbetten.

In Österreich ist die neue Variante bisher zwar noch nicht nachgewiesen worden, allerdings gehen zahlreiche Experten davon aus, dass sie sich global rasch durchsetzen wird und warnen davor, diese Entwicklung nicht ernst zu nehmen.

Der Mediziner und Gesundheitsökonom am IHS, Thomas Czypionka, fasste am Sonntag die neuesten Studienergebnisse auf Twitter kurz zusammen:

  • Die neue Variante bindet besser an ACE2, ein Enzym an der Oberfläche von Zellen. Dieses Enzym ist die Eintrittspforte des Virus in die menschlichen Zellen.
  • Die Virusmenge ("viral load") in Nase und Rachen ist bei Infizierten mit der neuen Variante größer. Je höher die Viruslast, umso mehr Viren werden aber beim Atmen, Sprechen, Husten oder Niesen ausgestoßen.
  • Auch die sogenannte "Sekundärinfektionsrate" ("secondary attack rate") ist höher. Diese definiert die Wahrscheinlichkeit,  dass eine weitere Infektion bei empfänglichen Personen innerhalb spezifischer Personengruppen (im Haushalt oder bei nahem Kontakt) auftritt.
  • Es gibt keine schwereren Verläufe der Erkrankungen.

Durch diese Eigenschaften dürfte die effektive Reproduktionszahl (d. h. die  durchschnittliche Anzahl der unter den aktuellen Bedingungen von einem Fall ausgelösten Folgefälle) "0,5 - 0,7 höher sein als beim Wildtyp", schreibt Czypionka.

Das würde bedeuten, dass jede Person - im Vergleich zum bisherigen Ansteckungsrisiko - zusätzlich zwischen 0,5 und 0,7 Personen infizieren würde. Laut jüngsten Daten der AGES liegt die effektive Reproduktionsrate in Österreich derzeit bei 0,88 - eine Person steckt also im Schnitt weniger als eine weitere Person an, bzw. 100 infizierte Personen stecken 88 weitere an.

Das Problem (mit dem höheren Infektionsrisiko, Anm.) sei, dass die Reproduktionszahl dadurch "natürlich schwerer unter 1 gehalten werden kann. Durch den Vorteil wird sich UK B.1.1.7 durchsetzen".

Aber nur bei einer Reproduktionsrate unter 1 wird die Ausbreitung des Virus gebremst. Czpionka abschließend: "Fazit derzeit: Wir haben ein großes Problem!"

Eine Gruppe von Medizinerinnen und Medizinern hat deshalb bereits eine Online-Petition gestartet, in der sie die Bundesregierung zu entschiedenem Handeln auffordert:

"Nicht begriffen, wie ernst das ist"

Darauf macht auch der deutsche Wissenschaftsjournalist und Molekularbiologe Kai Kupferschmidt auf Twitter aufmerksam. "Wegen des exponentiellen Wachstums wird der Effekt (durch das erhöhte Ansteckungsrisiko, Anm.) mit der Zeit massiv. Ich glaube, man hat bisher nicht begriffen, wie ernst das ist."

Viele Länder hätten es geschafft, die Infektionszahlen auf ein niedriges Niveau zu senken, durch die Hygienemaßnahmen (Abstand, Masken), Telearbeit, Testen, Kontaktnachverfolgung, keine großen Versammlungen, Lockdowns usw. "Die Infektionsketten werden ausgebremst. Es gibt einen gewissen Spielraum, um z. B. Schulen offen zu halten."

Aber dieser Spielraum sei gerade (durch die neue Virusvariante, Anm.) erheblich kleiner geworden: "Wenn die Schätzungen grob stimmen, ist es wahrscheinlich nicht möglich, die Schulen offen zu halten. Oder, um das Modell des Schweizer Käses zu nehmen: Wir können uns weniger Löcher im Käse leisten."

"Wir haben eine neue Phase dieser Pandemie erreicht", schreibt Kupferschmidt. "Einerseits beginnen die Impfungen, andererseits breitet sich diese neue Variante schneller aus und kann in kurzer Zeit viel mehr Krankheit und Tod verursachen (nicht, weil diese Variante gefährlicher wäre, was sie nach derzeitigem Stand der Wissenschaft nicht ist, sondern, weil sie sich einfach rascher ausbreitet und dadurch letztlich auch zu mehr schweren Infektionen führt, Anm.). Und: Mehr Menschen müssen geimpft werden, um Herdenimmunität zu erreichen."

Die kommenden Monate könnten die härtesten dieser Pandemie sein: "Wenn sie Impfstoffe als das Licht am Ende des Tunnels sehen: Ja, dieses Licht ist weiter da. Aber der Tunnel ist gerade ein bisschen dunkler und länger geworden."

Kein Grund zu verzweifeln

Jetzt sei aber nicht der Zeitpunkt, um zu verzweifeln und aufzugeben: "Ganz im Gegenteil. Wir wissen, was zu tun ist. Wir müssen jetzt alle Kraft sammeln, die wir noch haben, unsere Anstrengungen verdoppeln und die Ausbreitung dieses Virus jetzt eindämmen."

Auch die Virologin Isabella Eckerle von den Universitätskliniken in Genf äußerte sich am Sonntag ähnlich warnend: "Und jetzt passiert genau das gleiche wieder: Die Gefahr durch die neue Virusvariante wird nicht ernst genommen, es wird wieder abgewartet bis es zu spät ist, und wieder die Stimme der Wissenschaft ignoriert. Ein Blick nach UK sollte genügen um zu sehen, worauf wir zu schlittern."

 

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