Mutter-Kind-Pass: "In fünf Jahren Säuglingssterblichkeit halbiert"
Es ist ein Konflikt, der (werdende) Eltern enorm verunsichert: Untersuchungen in der Schwangerschaft bis zum fünften Lebensjahr des Kindes könnten ab 2023 etwas kosten - wenn es nach der Bundeskurie der niedergelassenen Ärzte in der Ärztekammer geht und sie ihre Drohung wahr macht, den Mutter-Kind-Pass als Kassenleistung mit Jahresende zu kündigen. Der Grund: Die Honorare für die Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen (Augen-, HNO-Untersuchungen, Impfungen u. v. m.) sind trotz eines gestiegenen Volumens an Leistungen seit 28 Jahren nicht valorisiert worden. Allerdings betonten am Donnerstag Gesundheits- und Familienressort erneut, dass eine Einigung kurz bevorstehe (mehr zu dem Konflikt lesen Sie bitte weiter unten).
Dabei ist der 1974 unter der damaligen Gesundheitsministerin Ingrid Leodolter (SPÖ) - sie war selbst Fachärztin für Innere Medizin - eingeführte Mutter-Kind-Pass eine beispiellose Erfolgsgeschichte im Bereich der Vorsorgemedizin. „Ihr war immer wichtig, dass Mutter und Kind bei der Geburt gesund sein sollen – aber das waren sie damals leider sehr oft nicht“, erinnert sich ihr Sohn, der Gynäkologe Sepp Leodolter, im KURIER-Interview. Er erzählt, wie es zum Mutter-Kind-Pass kam und was er verändert und verbessert hat.
KURIER: Wie war die Situation der Geburtshilfe 1974?
Sepp Leodolter: Unsere Neugeborenensterblichkeit – der Anteil der Totgeburten und Todesfälle bis zum 7. Tag nach der Geburt – war damals eine der höchsten in ganz Westeuropa. Er lag bei 30 Promille, es sind also 30 von 1.000 Kindern bis Ende der ersten Woche nach der Geburt verstorben. In den Niederlanden, Schweden oder Deutschland waren es 15 Promille. Das lag an der geringen Inanspruchnahme und auch der schlechten Qualität der Schwangerenbetreuung. So gab es im Schnitt nur zwei Untersuchungen in der Schwangerschaft, viele drohende Frühgeburten wurden nicht rechtzeitig erkannt, die Kinder kamen dann in nicht adäquaten Einrichtungen mit entsprechend schlechter Versorgung auf die Welt. Meine Mutter lud ausländische Experten nach Wien ein um das zu ändern – und gemeinsam konzipierten sie das Gerüst des Mutter-Kind-Passes.
Worin lag der Fortschritt?
Zu Beginn war es ganz klar die Verringerung der Säuglingssterblichkeit. Gelungen ist das damit, dass vier Untersuchungen für jede Schwangere eingeführt wurden – inklusive zweier Laboruntersuchungen. Und dass erstmals Ultraschalluntersuchungen sowie auch die Überwachung der Herztöne des Babys und die Wehentätigkeit auf breiter Basis durchgeführt wurden. Immerhin gab es damals noch Ärzte, die mit dem Hör-Rohr auf dem Bauch der Mutter den Baby-Herzschlag abhörten. Aber damit merken sie nicht rechtzeitig, wenn sich die Versorgung des Kindes verschlechterte. Dazu brauchen sie die elektronische Überwachung. Besonders am Land wurden viele Geburten auch noch von Chirurgen betreut – mit mäßigem Erfolg. Der Mutter–Kind-Pass war dann auch die Initialzündung für die Einrichtung geburtshilflicher Abteilungen und auch spezialisierter Neonatologien für frühgeborene Kinder. Erstmals arbeiteten Kinderärzte, Gynäkologen und Anästhesisten gemeinsam.
Und die ersten Lebensjahre?
Untersuchungen in den ersten Lebensjahren des Kindes – angefangen mit dem Hüftultraschall – brachten große Fortschritte bei der frühzeitigen Entdeckung verschiedener Erkrankung und Beeinträchtigungen. Weil die Eltern für die vier Untersuchungen in der Schwangerschaft und die vier Untersuchungen des Neugeborenen pro Untersuchung je 1.000 Schilling erhalten haben, lag die Teilnahmerate an den Untersuchungen auch bei 97 bis 98 Prozent der Schwangeren.
Wie rasch war ein medizinischer Erfolg messbar?
Innerhalb von nur fünf Jahren sank die Sterblichkeit der Neugeborenen von 30 Promille auf 15 Promille – heute sind es 6 Promille. Heute sterben nur mehr jene Kinder, die tatsächlich nicht lebensfähig sind. Auch die Müttersterblichkeit ist massiv zurückgegangen. Der Mutter-Kind-Pass war der erste große Wurf der Vorsorgemedizin. Er hat nicht nur zahlreichen Kindern – und auch Müttern – das Leben gerettet. Pro verhindertem Todesfall werden durch die bessere Betreuung gleichzeitig auch zwei Fälle von Kindern mit einer Gehirnschädigung verhindert.
Ist es für Sie vorstellbar, dass nach fast 50 Jahren Eltern für diese Untersuchungen zahlen müssen?
Nein, ich gehe davon aus, dass es nicht dazu kommt. Aber natürlich müssen die ärztlichen Leistungen angemessen abgegolten werden. Ich sehe die Kündigungsdrohung als Warnsignal, dass es unter den derzeitigen Voraussetzungen so nicht weitergehen kann. Aber ich bin auch davon überzeugt, dass es zu einer Einigung kommt.
Sollte es zu keiner Einigung zwischen Ärzteschaft und Regierung (Gesundheitsminister Johannes Rauch, Familienministerin Susanne Raab) kommen, würde ein vertragsloser Zustand entstehen, und die medizinischen Leistungen für Mutter und Kind würden damit etwas kosten. Das heißt, ab März müssten Schwangere beziehungsweise Mütter Untersuchungen privat bezahlen und bekämen die Arzthonorare teilweise von der zuständigen Krankenkassa rückvergütet.
„Auf diesen höchst bedauernswerten Ausgang müssen wir uns vorbereiten, weil wir bislang von der Politik nur Lippenbekenntnisse bekommen haben“, so der Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärzte, Edgar Wutscher, in einer Aussendung am Mittwoch. Dringlich ist die Einigung auch, weil die vorgeschriebenen Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen nachgewiesen werden müssen, um das Kinderbetreuungsgeld in voller Höhe zu erhalten. Am Donnerstag betonten Gesundheits- und Familienressort erneut, eine Einigung stehe kurz bevor.
Zum KURIER heißt es seitens Raabs Ressort: „Die Gespräche zur Reform des Mutter-Kind-Passes sind aktuell am Laufen und in finalen Zügen“, die Untersuchungen würden kostenfrei bleiben.
Die Oppositionsparteien meldeten sich ebenfalls zu Wort und riefen alle Verantwortlichen auf, eine rasche Lösung zu finden.
SPÖ-Gesundheitssprecher Philip Kucher spricht von einem „traurigen Ergebnis des Stillstands in der türkis-grünen Gesundheitspolitik“. Für Neos-Gesundheitssprecherin Fiona Fiedler ist es „einigermaßen realitätsfremd“, eine „plötzliche Erhöhung um 170 Prozent zu fordern“. Kammer wie Gesundheitsministerium müssten sich mit Forderungen einander annähern, die auch umsetzbar sind.
Volkshilfe-Direktor Erich Fenninger warnte, dass ein Ende des Mutter-Kind-Passes vor allem für Armutsbetroffene ein erhöhtes Gesundheitsrisiko bedeuten würde. Für viele wären diese Untersuchungen privat nicht leistbar. Fenninger forderte stattdessen eine Ausweitung bis zum 18. Lebensjahr.
Kommentare