Migräne: Die einseitige Qual – und die unterschätzte Behandlung

Frau um Mitte 40 seitlich hält sich rechte Stirnhälfte
Migräne verursacht starke, meist einseitige Kopfschmerzen mit Begleitsymptomen und betrifft viele Menschen. Moderne Therapien ermöglichen eine wirksame Behandlung und Vorbeugung, werden aber oft noch unterbewertet.

Schon die alten Griechen litten unter Migräne, wie die Aufzeichnungen des Arztes und Gelehrten Hippokrates belegen. Er beschrieb den charakteristisch einseitigen Kopfschmerz als „Hemikranion“ – halber Schädel. Auch im Mittelalter war das Leiden bekannt: Hildegard von Bingen, die Benediktinerin des 12. Jahrhunderts, hielt Symptome fest, die eindeutig auf Migräne hindeuten, und suchte deren Ursachen in einer Mischung aus Körpersäften, kosmischen Einflüssen und göttlicher Ordnung.

Bis in die moderne Medizin ließen sich diese Erklärungen natürlich nicht halten – und bis heute ist das Krankheitsbild nicht in allen Facetten erforscht.

Allerdings gibt es heute eindeutige Diagnosekriterien und eine Reihe von Therapiemöglichkeiten, darunter auch neue Medikamente zur Vorbeugung. Schätzungen zufolge leiden rund eine Million Menschen in Österreich unter wiederkehrender Migräne. Doch obwohl das „Gewitter im Kopf“ den Alltag massiv einschränken kann, sucht nur etwa die Hälfte der Betroffenen ärztliche Hilfe auf. „Die meisten versuchen, sich selbst zu behandeln, und greifen zu verschiedensten Schmerzmitteln. Häufig wird Migräne vom Umfeld auch nicht ernst genommen – das ist ein großes Problem, denn Migräne lässt sich bei vielen gut behandeln“, sagt Priv. Doz. Dr. Stefan Leis, Leiter der Neurologischen Schmerzambulanz an der Christian-Doppler-Klinik in Salzburg.

Eindeutige Symptomatik

Migräne ist weit mehr als „nur“ Kopfschmerz – viele Betroffene beschreiben sie so, „als würde der Kopf explodieren“. Typisch sind stechende, pulsierende Schmerzen, die stunden- oder sogar tagelang anhalten können. Meist treten die Schmerzen einseitig auf und werden begleitet von Übelkeit, Erbrechen und einer Überempfindlichkeit gegenüber Licht, Geräuschen und Gerüchen, sodass man sich in einen dunklen Raum zurückziehen möchte – oder muss.

Bei manchen kündigt sich die Attacke durch eine sogenannte Aura an: Sehstörungen wie Flimmern, Blitze oder Tunnelblick, die Minuten bis zu einer Stunde dauern können. „Die meisten Betroffenen erkennen die persönlichen Vorboten sehr deutlich. Manche spüren eine eigenartige Müdigkeit, wiederholtes Gähnen, Stimmungsschwankungen; manche werden depressiv, andere aggressiv. Auch Heißhungerattacken können auftreten“, berichtet Univ.-Prof. Dr. Christian Wöber, Leiter der Kopfschmerzambulanz am AKH Wien und Leiter der Arbeitsgruppe Kopfschmerz der MedUni Wien. Nach einer Attacke fühlen sich viele erschöpft und kraftlos, selbst wenn die Schmerzen abgeklungen sind.

Komplexes Krankheitsbild

Einen eindeutigen Test, bildgebende Verfahren oder Biomarker, die Migräne zweifelsfrei bestätigen, gibt es bisher nicht. Die Diagnose erfolgt anhand festgelegter Kriterien und basiert in erster Linie auf der genauen Schilderung der Beschwerden. Eine ausführliche Anamnese sowie klinische und neurologische Untersuchungen dienen dazu, andere Ursachen auszuschließen. Mit bildgebenden Verfahren kann zusätzlich bestätigt werden, dass keine ernsthafte andere Erkrankung vorliegt.

„Was wir bislang wissen, ist, dass Migräne durch ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Hirnregionen und Nervenstrukturen entsteht“, sagt Wöber. Eine zentrale Rolle spielt der Hirnstamm, in dem lebenswichtige Zentren wie das Atem- und Bewusstseinszentrum liegen. „Bereits in den 1990er-Jahren wurde hier der sogenannte ,Migränegenerator’ identifiziert.“ Später habe sich gezeigt, dass auch der Hypothalamus beteiligt ist – die „innere Uhr“ des Körpers, die den Schlaf-Wach-Rhythmus und wichtige Hormonfunktionen steuert. Neben diesen zentralen Strukturen ist bei einer Migräneattacke auch das periphere Nervensystem involviert, insbesondere der Gesichtsnerv (Nervus trigeminus). Wöber: „Über ihn wird eine Entzündungsreaktion in der Gehirnhaut ausgelöst, die die typischen Migräne-Kopfschmerzen verursacht.“

Schmerzmittel als erste Wahl

Die Behandlung von Migräne orientiert sich an internationalen Leitlinien und besteht aus zwei Säulen: der Akuttherapie und der Vorbeugung. „Für akute Attacken gilt: Medikamente sollten frühzeitig eingenommen werden, sobald sich die Migräne ankündigt. Viele zögern die Einnahme hinaus – das ist nicht empfehlenswert“, betont Leis.

Ziel der Akutbehandlung ist es, die Attacke zu verkürzen und ein vollständiges Ausbrechen zu verhindern. Idealerweise klingt die Migräne innerhalb von zwei Stunden nach der Einnahme ab. Zur Behandlung stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, von frei erhältlichen Schmerzmitteln bis hin zu verschreibungspflichtigen Spezialmedikamenten. Wer nur wenige Male im Jahr unter Migräne leidet und mit einer passenden Dosierung ein Abklingen innerhalb von zwei Stunden erreicht, kann auf Selbstmedikation setzen, rät Leis.

Zu den bewährten Wirkstoffen zählen Acetylsalicylsäure, Ibuprofen und Paracetamol. In Österreich ist zudem Mefenaminsäure weit verbreitet. „Diese gängigen Präparate bilden für viele Betroffene den ersten Schritt in der Akuttherapie – vorausgesetzt, sie werden rechtzeitig eingenommen“, bestätigt Wöber.

Migräne vorbeugen

Neben der Behandlung ist auch die Vorbeugung wichtig – vom Lebensstil bis hin zu Medikamenten. Zu den häufigsten Auslösern zählen zu wenig Schlaf, Stress oder auch Ärger. Wichtig sei jedoch, die Erkrankung nicht auf vermeintlich banale Ursachen zu reduzieren. Wöber: „Es ist nicht zielführend, Migräne als Folge von Stress abzutun. Das verunsichert und verärgert Betroffene, zumal viele diese gut gemeinten Ratschläge aus ihrem Umfeld längst nicht mehr hören können, und sie oft gar nicht zutreffen.“

Treffen solche Faktoren jedoch zu, können gezielte Entspannungstechniken sowie psychologische oder psychotherapeutische Unterstützung helfen. „Gegensteuern unter Berücksichtigung des im Alltag Möglichen“ lautet hier die Devise.

Zu den niedrigschwelligen Maßnahmen zählen auch Akupunktur, deren positive Effekte in zahlreichen Studien belegt sind, sowie pflanzliche Präparate wie Mutterkraut. Nahrungsergänzungsmittel wie Magnesium, Coenzym Q10 oder Vitamin B2 können ebenfalls vorbeugend wirken.

Keine Angst vor Triptanen

Reichen herkömmliche Schmerzmittel nicht aus und treten die Attacken häufiger auf, sollte ärztliche Hilfe in Anspruch genommen werden. Neben gängigen Schmerzmitteln gibt es seit Jahrzehnten Medikamente, die speziell für Migräne entwickelt wurden: die sogenannten Triptane. Diese Wirkstoffe kamen Anfang der 1990er-Jahre auf den Markt, nachdem in den 1980ern entscheidende Erkenntnisse über die Entstehung von Migräne gewonnen wurden. „Triptane wirken speziell bei Migräne, bei Rückenschmerzen etwa würden sie gar nicht helfen“, erklärt Wöber. Sie setzen am Botenstoff Serotonin an, der bei einer Migräneattacke eine wichtige Rolle spielt. Das macht sie in vielen Fällen wirksamer als herkömmliche Schmerzmittel. Trotzdem werden sie in der Praxis zu selten eingesetzt. In Österreich bekommen nicht mehr als sechs Prozent der Migränebetroffenen ein Triptan. Es bestehe ein großer Nachholbedarf, so die beiden Neurologen.

Ein Grund für die Zurückhaltung sei eine anhaltende Skepsis. „Den Triptanen wird ungerechtfertigterweise nachgesagt, dass sie problematische Medikamente wären. Das aber trifft nicht zu.“ Statistisch tritt eine gefährliche Nebenwirkung nur in einem von einer Million Anwendungsfällen auf. Eine dänische Studie bestätigte: Unter 430.000 Migränepatienten traten lediglich bei 68 Personen schwerwiegende Nebenwirkungen auf, und zwar ausschließlich bei Menschen mit bestehenden Gefäßerkrankungen. Werde das beachtet, seien Triptane sichere Medikamente, die bedenkenlos verwendet werden können. Vorsicht sei lediglich geboten bei Menschen mit hohem Risiko für Herzinfarkt oder Schlaganfall, etwa starken Rauchern oder Patienten nach einer solchen Erkrankung, betont Leis.

„Leider hatten Triptane von Anfang an eine schlechte PR. Da gab es etwas Berichte von Herzinfarkten. Manche Ärzte warnen davor, und das ist leider der falsche Weg“, betont Wöber. Wer bei einer Attacke zunächst zu herkömmlichen Schmerzmitteln greift und erst später ein Triptan einnimmt, nimmt am Ende oft mehr Medikamente als nötig. Damit sich das ändert, brauche es mehr Aufklärung. Sowohl bei Ärzten als auch bei Betroffenen, fordert Wöber. Eine zusätzliche Hürde: Triptane müssen in Österreich zunächst von einem Neurologen verschrieben werden, erst danach dürfen Hausärzte das Rezept weiter ausstellen.

„Migränespritze“ als moderne Option

In der medikamentösen Prophylaxe haben sich lange Zeit Betablocker oder Wirkstoffe aus der Epilepsiebehandlung bewährt. „Diese rücken jedoch zunehmend in den Hintergrund – vor allem wegen möglicher Nebenwirkungen und einer geringen Bereitschaft, sie langfristig einzunehmen“, so Wöber. Ein Meilenstein war 2018 die Einführung spezieller Antikörpertherapien. Sie richten sich gegen den Botenstoff CGRP (Calcitonin Gene-Related Peptide), der bei Migräne eine Schlüsselrolle spielt. Dieses Neuropeptid erweitert die Blutgefäße und aktiviert den Trigeminusnerv, der die Hirnhäute versorgt, wodurch diese empfindlicher werden. Da das Gehirn selbst keine Schmerzrezeptoren besitzt, entstehen die typischen Migräneschmerzen durch diese Sensibilisierung der Hirnhäute.

Hier setzt die sogenannte „Migränespritze“ an: Die enthaltenen Antikörper blockieren entweder den Botenstoff selbst oder seinen Rezeptor. Dadurch wird die Aktivierung und Überempfindlichkeit des Nervs reduziert – und sowohl Häufigkeit als auch Intensität der Attacken können deutlich sinken. Die Präparate werden entweder einmal pro Monat oder alle drei Monate verabreicht. Eingesetzt wird die Therapie vorbeugend, um das Auftreten von Migräneattacken zu verhindern oder zu reduzieren. Die Verordnung setzt voraus, dass Migräne an mindestens vier Tagen pro Monat auftritt und mindestens drei andere mögliche Medikamente nicht vertragen oder als unwirksam eingestuft wurden oder wegen einer Gegenanzeige nicht verabreicht werden können.

„Die Migränespritze ist bei den allermeisten, aber nicht bei allen, sehr gut wirksam. Bei etwa jedem zweiten Betroffenen lässt sich damit die Zahl der Migränetage pro Monat mehr als halbieren“, erklärt Leis.

Neben den injizierbaren Antikörpern gibt es inzwischen auch Medikamente in Tablettenform, die den CGRP-Mechanismus blockieren – sogenannte Gepante. „Eines davon ist in Österreich bereits am Markt, sowohl zur Vorbeugung als auch zur Akuttherapie zugelassen und seit September ohne chefärztliche Bewilligung erhältlich“, so Wöber.

Frauen im Fokus

Migräne tritt häufig familiär gehäuft auf – ist jedoch keine reine Erbkrankheit. „Viele Betroffene berichten, dass auch Mutter, Großmutter, Tanten oder Cousins betroffen sind“, sagt Leis. Auffällig ist zudem der Geschlechterunterschied: Frauen leiden zwei- bis dreimal häufiger unter Migräne als Männer, vermutlich spielen Hormonschwankungen dabei eine zentrale Rolle. Besonders deutlich zeigt sich das bei zyklusgebundener Migräne: Viele Patientinnen berichten von Attacken rund um die Menstruation, während sich die Beschwerden in der Schwangerschaft oder nach den Wechseljahren oft deutlich bessern. Bei Migräne mit Aura besteht für Frauen allerdings ein erhöhtes Schlaganfallrisiko. „Deshalb empfiehlt man diesen Frauen, andere Risikofaktoren zu reduzieren – zum Beispiel nicht zu rauchen, nur eine bestimmte Antibabypille einzunehmen oder auch ganz darauf zu verzichten. Das muss im Einzelfall abgewogen werden“, erklärt Leis.

Apropos Schwangerschaft: Ein spezieller Aspekt ist die Migräne in der Schwangerschaft. „Oft sagt man Schwangeren, sie dürfen nichts anderes nehmen als Paracetamol – und das ist bei Migräne oft wirkungslos“, so Wöber. Viele Frauen quälen sich oft aus Sorge um das Kind und verzichten auf Hilfe. Dabei gebe es für ein bestimmtes Triptan ausreichend Daten, die eine sichere Anwendung in der Schwangerschaft belegen.

Kinder immer häufiger betroffen

Migräne ist längst kein reines Erwachsenenproblem mehr. „Wir sehen bei Kindern und Jugendlichen eine Zunahme der Häufigkeit. Kopfschmerz und Migräne sind bei Zehn- bis 18-Jährigen in Österreich ein sehr häufiges Problem“, so Wöber. Auch internationale Studien bestätigen das. Positiv sei, dass die Erkrankung heute ernster genommen werde als früher. Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Kopfschmerzen ist leider unzureichend. Der Aufbau von Kopfschmerzambulanzen ist dringend erforderlich.

In der Behandlung gebe es jedoch Unterschiede zu Erwachsenen. Zwar kann man oft ohne Medikamente auskommen – manchmal reicht es, ein bis zwei Stunden zu schlafen. Auch nach Erbrechen ist die Migräne bei manchen Kindern vorbei. Es kann aber auch eine medikamentöse Behandlung notwendig sein. „Viele Eltern geben aus Sorge eine zu niedrige Dosis – das ist problematisch, weil sie dann nicht wirkt“, warnt Wöber. Entscheidend sei, frühzeitig und ausreichend hoch zu dosieren – in Rücksprache mit dem Arzt. Treten Attacken häufig auf, müsse man mögliche Gründe genauer betrachten. Die Neigung zu Migräne kann man erben, aber ob und wie stark sie ausbricht, hängt oft von Auslösern im Leben ab. Belastungsfaktoren in Schule oder Familie, selbst auferlegter Leistungsdruck oder Begleiterkrankungen könnten die Häufigkeit von Attacken beeinflussen. „Gerade bei Kindern ist der nichtmedikamentöse Ansatz wichtig – Stress reduzieren, Entspannungstechniken einführen und gezielt aufklären.“

Außerdem können Kinder ihre Schmerzen in der Regel gut einordnen. „Sie zeigen, wo es weh tut, und beschreiben die Kopfschmerzen oft erstaunlich präzise“, sagt Wöber. Eltern könnten ergänzend wertvolle Beobachtungen beisteuern, etwa zur Häufigkeit der Attacken. Ein eindeutiges Warnsignal: Wenn ein Kind plötzlich mit dem Spielen aufhört und sich freiwillig hinlegt, ist das ein starkes Indiz für Migräne. Auch in der medikamentösen Akuttherapie gibt es kindgerechte Optionen, etwa ein Triptan als Nasenspray, das ab zwölf Jahren zugelassen ist. Auch andere Triptane, die erst ab 18 zugelassen sind, können im sogenannten Off-Label-Use bei Jugendlichen eingesetzt werden – vorausgesetzt, die Eltern werden aufgeklärt.“ Wichtig sei, dass vorher ein hochdosiertes Schmerzmittel früh in der Attacke gegeben wurde. Wöber: „Wenn das nicht hilft, sind auch bei Jugendlichen Triptane angebracht. Man darf Kinder und Jugendliche nicht unnötig leiden lassen.“

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