Migräne: "Mit neuen Medikamenten können wir gegensteuern"

Migräne: "Mit neuen  Medikamenten können wir gegensteuern"
Migräne zählt zu den schlimmsten Schmerzzuständen, besonders bei Frauen. Die Neurologin Sonja-Maria Tesar über die Ursachen und neue Therapiemöglichkeiten.

"So schlimm kann es doch nicht sein, ich habe auch immer wieder Kopfschmerzen.“ – „Geh doch öfter an die frische Luft.“ Das sind nur zwei von vielen typischen Sätzen, die Patienten mit Migräne immer wieder hören. „Die Betroffenen leiden darunter, fühlen sich – zu Recht – unverstanden und ziehen sich zurück“, sagt die Neurologin Dr. Sonja-Maria Tesar, eine der führenden Kopfschmerzspezialistinnen Österreichs und Leiterin der Kopfschmerzambulanz am Klinikum Klagenfurt. Sie hat aber gute Nachrichten: „Wir haben in den vergangenen Jahren einige sehr gute Therapiemöglichkeiten dazubekommen.“

KURIER: Sind solche Aussagen wie die oben genannten nicht ein Zeichen, dass die Komplexität von Migräne nach wie vor oft nicht richtig verstanden wird?

Sonja-Maria Tesar: Ja, ganz sicher. Migräne ist eine komplexe neurobiologische Erkrankung, aber die landläufige Bezeichnung „Kopfschmerzerkrankung“ führt häufig zur Bagatellisierung, zur Verharmlosung. Jeder hatte schon einmal Kopfschmerzen und schließt dann von sich aus auf Migräne: So schlimm wird es schon nicht sein. So einfach ist das aber nicht. Bei einer Attacke etwa kann man nicht an die frische Luft gehen. Und Kopfschmerzen sind oft, aber nicht immer das Hauptproblem. Viele leiden noch viel stärker an Übelkeit, Lärm-, Licht- oder Geruchsüberempfindlichkeit.

Was sind die Ursachen von Migräne?

Es sind eindeutig biologische Ursachen, sehr vereinfacht gesagt eine Mischung aus veränderten Aktivierungszuständen einzelner Hirnareale verbunden mit der Ausschüttung unterschiedlichster Botenstoffe, darunter Schmerzbotenstoffen, die zu einer verstärkten Schmerzempfindung führen. Der Umstand, dass es in verschiedenen Hirnarealen zu einer Veränderung kommt, erklärt auch die Vielfalt der Symptome – die Seh- und Wahrnehmungsstörungen, die Aura vor dem Auftreten der Kopfschmerzen, die Übelkeit, das Erbrechen.

Die Neurologin Sonja-Maria Tesar  ist Präsidentin der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft und Leiterin der Kopf- und Gesichtsschmerzambulanz am KABEG-Klinikum Klagenfurt am Wörthersee. Sie betreibt auch eine Wahlarztordination in Klagenfurt.

 

Es ist eben kein Kopfschmerz, der deshalb entsteht, weil man sich in einem Raum mit schlechter Luft aufgehalten hat. Mit speziellen MRT-Untersuchungen sind diese Veränderungen im Gehirn nachweisbar.

Für die Diagnose einer Migräne sind folgende Kriterien ausschlaggebend:

Mindestens fünf Attacken auf die gesamte Lebenszeit. Unbehandelt oder erfolglos behandelt dauert eine Attacke 4 bis 72 Stunden.

Typische Anzeichen: 

Mindestens zwei der folgenden Charakteristiken:

1. Der Schmerz ist meist einseitig
2. Pulsierender oder pochender Schmerz
3. Moderate oder schwere Schmerzintensität
4. Schmerz wird durch körperliche Aktivität verstärkt

Weitere Anzeichen:

Mindestens eine dieser Begleiterscheinungen:

– Übelkeit und/oder Erbrechen
– Geräuschüberempfindlichkeit
– Lichtüberempfindlichkeit

Betroffene hören aber oft auch, sie sollen doch einfach Stress in ihrem Leben abbauen.

Hier gibt es ein häufiges Missverständnis: Stress ist keine Ursache der Migräne, er kann aber in bestimmten Situationen bei manchen ein Auslöser sein. Aber nicht bei allen. Wobei es eher erst dann zu Attacken kommt, wenn ein Wechsel in der Belastungsintensität einsetzt, also wenn der Stress nachlässt. Ähnlich ist es beim Wetterwechsel . Oder bei zu langen Pausen zwischen den Mahlzeiten. Oder der Wechsel zwischen hohem und niedrigem Östrogenspiegel – Stichwort menstruelle Migräne, die extrem belastend ist und wo es so oft viel zu wenig Verständnis gibt. 

Da braucht es Rückzugsmöglichkeiten, etwa einen abgedunkelten Raum am Arbeitsplatz, wo sich die Frauen bzw. alle Patienten während einer Attacke hinlegen oder zurückziehen können. Es sind solche Dysbalancen, wenn etwas nicht im Gleichgewicht ist, die diese grundsätzlich immer vorhandene Erkrankung zum Ausbruch bringen können.

Migräne: "Mit neuen  Medikamenten können wir gegensteuern"

Und welche Rolle spielt die Psyche?

Zunächst: Migräne ist definitiv keine psychische Erkrankung. Aber die Psyche ist in zweifacher Weise involviert: Wenn ich immer wieder Attacken habe, leidet meine Lebensqualität und mir geht es psychisch schlechter – weil ich mich zurückziehe, mich nicht mehr traue, verschiedene Aktivitäten anzugehen, aus Angst vor einer Attacke und weil sich viele Betroffene Vorwürfe machen, die Krankheit nicht besser im Griff zu haben.

Und das Zweite ist: Eine nicht behandelte Migräne erhöht das Risiko für eine Depression oder Angststörung um das Zehnfache. Teilweise sind nämlich dieselben Botenstoffe an der Entstehung aller drei Erkrankungen beteiligt – etwa das Eiweißmolekül CGRP, dessen Spiegel im Blut während einer Migräne-Attacke stark ansteigt. Mit relativ neuen Medikamenten können wir hier aber gut gegensteuern.

Sie meinen jetzt Medikamente zur Vorbeugung?

Ja, sogenannte CGRP-Antikörper, von denen vier in der EU zugelassen sind. Sie alle machen – auf zwei unterschiedliche Weisen – das CGRP direkt unwirksam oder blockieren dessen Rezeptor. Drei davon werden monatlich bzw. alle 28 Tage mit einem Pen von den Patienten selbst unter die Haut injiziert, eines alle drei Monate als Infusion. Erfolgreich ist eine Prophylaxe dann, wenn wir bei der chronischen Migräne (15 oder mehr Kopfschmerztage pro Monat) die Zahl der Migränetage um 30 Prozent, bei der episodischen Migräne um 50 Prozent senken können. Und das gelingt doch bei einem guten Teil der Betroffenen. 

Diese Antikörper können unter anderem dann verordnet werden, wenn ältere Prophylaktika nicht wirksam oder unverträglich waren. Zusätzlich gibt es diesen spezifischen Wirkansatz auch als Tablettenform in Form der sogenannten Gepante. In Österreich sind zwei davon zugelassen, jedoch aktuell chefärztlich zu bewilligen. Vorteilhaft können diese u. a. bei bestehendem Kinderwunsch sein, da sie rascher abgebaut werden, wenn sie nicht mehr genommen werden, oder auch bei der menstruellen Migräne als Kurzzeitprophylaxe.

Migräne: "Mit neuen  Medikamenten können wir gegensteuern"

Und wie sieht es in der Akuttherapie aus?

Bei einer effektiven Attackentherapie dauern die Schmerzen und andere Symptome nicht länger als zwei Stunden an. Bewährt hat sich etwa eine Kombination von Acetylsalicylsäure, Koffein und Paracetamol. Aber Achtung: Der zu häufige Einsatz von selbst verordneten rezeptfreien Schmerzmitteln kann ernste Folgen haben – von einer Magenentzündung bis hin zum akuten Nierenversagen. Gleichzeitig kann ein zu häufiger Gebrauch einen zusätzlichen „Medikamentenkopfschmerz“ auslösen.

Ab drei Migränetagen pro Monat sollte man deshalb nicht nur akut therapieren, sondern auch bereits über eine Prophylaxe nachdenken. Denn ohne eine solche kann sich die Häufigkeit der Attacken steigern. Bei schlechtem Ansprechen auf rezeptfreie Schmerzmittel sollten Triptane zum Einsatz kommen, die sehr sicher und sehr wirksam sind, aber viel zu selten verschrieben werden. Und darüber hinaus gibt es auch hier neue Therapieoptionen, die aber auch vom Chefarzt bewilligt werden müssen.

Und welche nicht-medikamentösen Maßnahmen helfen in der Vorbeugung von Attacken?

Nicht-medikamentöse Maßnahmen sollten immer die Basis der Vorbeugung sein. Ausdauersport zum Beispiel hat eine vergleichbare Wirksamkeit wie ein Medikament. Entspannungstechniken, Biofeedback und kognitive Verhaltenstherapie helfen, die Stressspitzen zu kappen. Als pflanzliches Arzneimittel kann Mutterkraut in der Prophylaxe von Attacken eingesetzt werden, Akupunktur kann vor allem bei der episodischen Migräne helfen. 

Auch Coenzym Q 10 und Magnesium kann man probieren, sind aber von der Wirkung her mit Medikamenten nicht zu vergleichen. Keinen wissenschaftlichen Nachweis einer Wirksamkeit gibt es für ein Migräne-Piercing am Ohr, das sogenannte Daith-Piercing, das eine Akupunktur-Behandlung simulieren soll. Ein gewisser Placebo-Effekt kann aber nicht ausgeschlossen werden.

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