Für diese Vermutung, dass perfektionistische und leistungsorientierte Menschen häufiger betroffen sind, gibt es keine Belege. Man kann das nicht verallgemeinern. Migräne ist auch keine "psychische" Erkrankung. Es gibt eindeutige biologische Ursachen. Es kommt u.a. zu einer Entzündungsreaktion in der Hirnhaut und bestimmte Botenstoffe werden vermehrt ausgeschüttet. Aber natürlich gibt es Auswirkungen auf die Psyche, die in einem umfassenden Behandlungskonzept auch berücksichtigt werden müssen.
Welche Rolle haben Wetterwechsel, wie wir sie etwa derzeit häufig erleben, auf die Migränehäufigkeit?
Das ist sehr individuell. Man kann nicht generell sagen, dass Wetterwechsel oder unbeständiges Wetter, wie wir es derzeit erleben, Migräneattacken auslöst. Manche Betroffene erleiden eher bei Temperaturabfall eine Attacke, andere bei Temperaturanstieg. Das Wetter kann also durchaus eine Rolle spielen, aber das ist von Person zu Person sehr unterschiedlich. Es ist aber problematisch, sich zu sehr auf das Wetter als Auslöser zu fokussieren: Dadurch übersieht man möglicherweise andere Auslöser, die man beeinflussen kann. Das Wetter hingegen kann man nicht beeinflussen.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Migräneauslöser sehr individuell sind. Lässt sich trotzdem etwas Allgemeingültiges sagen?
Zunächst ist wichtig: Man kann nicht jede Attacke auf einen erkennbaren Auslöser zurückführen. Patientinnen und Patienten sagen auch oft, sie hatten einen schönen, entspannten Tag, und trotzdem ist es zu einer Attacke gekommen. Häufig ist es auch eine Kombination aus mehreren Auslösern: bei Frauen das Einsetzen der Regelblutung, Schlafmangel, Stress, ein unregelmäßiger Alltag, zu wenig Essen und Trinken. Wobei etwa auch das Thema Stress sehr individuell ist. Bei manchen führt auch erst das Nachlassen von Stress zu einer Attacke, wenn etwa der Druck einer Prüfung oder einer schwierigen beruflichen Aufgabe vorbei ist. Und Stress kann auch gar keinen Einfluss auf die Attackenhäufigkeit haben.
50 Prozent der Migränebetroffenen haben noch nie ärztliche Hilfe in Anspruch genommen, viele therapieren sich mit rezeptfreien Schmerzmitteln selbst. Wie sehen Sie das?
Wenn es nur wenige Attacken im Jahr sind und die Schmerzmittel gut wirken - darunter verstehe ich, dass die Attacke innerhalb von zwei Stunden abklingt -, dann spricht da nichts dagegen. Sind es aber mehrere Attacken im Monat und ist die Lebensqualität massiv eingeschränkt, sollte man unbedingt ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Werden Mittel gegen akuten Kopfschmerz zu häufig verwendet, kann sich ein zusätzlicher, durch die Medikamente ausgelöster Kopfschmerz, entwickeln. Deshalb sollte man die Einnahme von Akutmedikamenten auf weniger als zehn Tage im Monat beschränken und mit dem Arzt bzw. der Ärztin ein umfassendes Konzept zur Vorbeugung und Akutbehandlung entwickeln.
Wie hat sich Covid-19 auf die Kopfschmerzhäufigkeit ausgewirkt?
Bei rund der Hälfte der Erkrankten ist Kopfweh ein Symptom, das durchaus sehr belastend sein kann. In den meisten Fällen ist der Schmerz spätestens nach drei Monaten verschwunden, aber bei 10 Prozent ist er auch nach einem Jahr noch vorhanden. Insgesamt ist das Risiko, dass Kopfschmerzen zu einem Problem werden, nach einer Infektion mit dem neuen Coronavirus deutlich größer als nach einer Impfung.
Was hat sich in der Vorbeugung bewährt?
Hier zeigen Entspannungstechniken, Biofeedback, kognitive Verhaltenstherapie oder auch Akupunktur gute Ergebnisse. Manchen helfen auch pflanzliche Arzneimittel und Nahrungsergänzungsmittel wie Mutterkraut, Magnesium, Riboflavin (Vitamin B2) oder Coenzym Q10. Ein wirklicher Durchbruch sind vier neue Medikamente, spezielle Antikörper, die gezielt gegen Migräne entwickelt wurden. Sie richten sich gegen den Botenstoff CGRP, dessen Spiegel im Blut bei Attacken ansteigt und die Entzündung und Schmerzentstehung antreibt. Die Medikamente - drei werden als Injektion, eines als Infusion verabreicht - blockieren diesen Botenstoff. Viele Patienten, bei denen ältere Medikamente nicht ausreichend wirkten, bekommen mit den neuen Präparaten die Migräne gut in den Griff. Es gibt aber auch Personen, die nicht darauf ansprechen. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Präparate helfen, größer, als dass sie nicht helfen.
Breiten Raum bekommt in Ihrem Buch auch das Thema Kinderkopfschmerz - Ihre Frau, Prof. Çiçek Wöber-Bingöl, ist eine ausgewiesene Spezialistin auf diesem Gebiet. Wie häufig ist dieser?
Eine Studie der MedUni Wien hat ergeben, dass von den 10- bis 18-Jährigen 75 Prozent schon einmal Kopfschmerzen hatten. Knapp sieben Prozent sind von Migräne betroffen und 15 Prozent von Spannungskopfschmerz. Es ist wichtig, dieses Symptom ernst zu nehmen und auch den Ursachen auf den Grund zu gehen. Bei Kindern kann man mit nicht medikamentösen Maßnahmen - etwa beim Schlafrhythmus und mit regelmäßigem Trinken - sehr viel erreichen. Bei einer schweren Migräneattacke ist aber auch bei Kindern eine wirksame Schmerztherapie notwendig, um einer Chronifizierung des Schmerzens entgegenzuwirken.
Buchtipp:
"Kopfschmerz. Richtig zuordnen, gezielt behandeln", Çiçek Wöber-Bingöl, Chrstian Wöber, MANZ Verlag, 248 Seiten, 23,90 Euro.
Veranstaltungstipp:
Informationsveranstaltung "Kopfschmerz richtig zuordnen und gezielt behandeln" mit Prof. Çiçek Wöber-Bingöl und Prof. Christian Wöber, am Donnerstag, 6.6., 19 Uhr.
Ort: Van Swieten Saal der MedUni Wien, Van-Swieten-Gasse 1a, 1090 Wien. Der Vortrag wird auch im Internet als Live-Stream übertragen.
Info und Anmeldung:
https://www.meduniwien.ac.at/web/ueber-uns/events/2024/kopfschmerz-richtig-zuordnen-gezielt-behandeln/
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