Wer trägt die Verantwortung, wenn ein "Wundermittel" krank macht?
Im Frühling hätte das Warten ein Ende haben sollen: Lecanemab, die erste Substanz, die den Verlauf von Alzheimer bremst, sollte von der EMA, der Europäischen Arzneimittelbehörde, zugelassen werden. Es kam anders: Das zuständige Gremium entschied sich nach Abwägung von Nutzen und Risiken dagegen. Obwohl das Präparat, das unter dem Handelsnamen Leqembi verkauft wird, in den USA bereits 2023 grünes Licht erhalten hatte.
Damit sind die Einsatzmöglichkeiten für das Mittel hierzulande begrenzt, weiß Markus Zeitlinger, Klinischer Pharmakologe an der MedUni Wien.
Darf mit Lecanemab in Österreich therapiert werden?
An die EMA geknüpfte Ausnahmeregelungen, etwa eine Off-Label-Nutzung oder ein Compassionate Use, kommen nicht infrage, "weil es einen aktiven Entscheid gegen eine Zulassung gibt", sagt Zeitlinger. "Derzeit wäre Lecanemab nur im Rahmen eines sogenannten Heilversuchs in Österreich anwendbar." Ein solches Vorgehen ist nicht behördlich reguliert. Der Arzt begibt sich auf eigenständiges Terrain. "Wenn er keine Alternativen sieht, darf er ein Mittel zum Wohle des Patienten eigenverantwortlich verabreichen."
Weil Leqembi von der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde durchgewunken wurde, sei die Verwendung "prinzipiell gut zu argumentieren", meint Zeitlinger. "Alle regulativen Bedingungen sind erfüllt, es ist eine hochrein hergestellte Arznei, die Kontrollen durchlaufen hat." Sollte es zu einem Schaden kommen, "kann der Arzt oder die Ärztin argumentieren, er sei nach den Grundsätzen der medizinischen Wissenschaft vorgegangen, da es sich bei den USA um ein Land mit hohen wissenschaftlichen Standards handelt und umfassende Studiendaten vorliegen", sagt auch Karl Stöger, Professor für Medizinrecht am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien. Allerdings: Um das Risiko einer Schadenersatzklage zu minimieren, muss der Arzt gute Gründe anführen, warum er die Anwendung des Präparats medizinisch für vertretbar hielt, obwohl die EU-Behörde anderer Ansicht ist.
Bestellen kann man das hochpreisige Präparat – es kostet pro Patient und 23.000 Euro pro Jahr – grundsätzlich über die Internationale Apotheke, die ausländische Arzneimittel importiert. "Vorausgesetzt es ist aktuell nach Österreich lieferbar", sagt Zeitlinger.
Off-Label-Anwendung vor allem bei Kindern gängig
Der Regelfall ist das nicht. Zehntausende Male wird in Österreich täglich ein Medikament ärztlich verschrieben, das speziell für die Therapie der jeweiligen Erkrankung einer Patientin oder eines Patienten und für sein Alter in bestimmter Dosierung zugelassen ist. Doch es gibt eben auch andere Situationen. "Am gängigsten ist die Off-Label-Anwendung", sagt Stöger. Damit ist der Einsatz eines zugelassenen Arzneimittels außerhalb des genehmigten Anwendungsgebietes gemeint. Besonders häufig kommt dies bei Kindern vor. "Viele Arzneimittel, die zur Behandlung kranker Kinder benötigt werden, sind nicht für sie zugelassen, weil umfangreiche Studiendaten zur Personengruppe fehlen", sagt Zeitlinger. "Man kann auch ein Antibiotikum, das für Harnwegsinfekte zugelassen ist, auf diesem Weg für eine Lungenentzündung verschreiben – oder es in einer anderen Dosierung verabreichen."
Die Verantwortung trägt stets der Arzt. Allerdings: "Ist in der Fachliteratur gut dokumentiert, dass der anders gelagerte Einsatz gerechtfertigt und medizinisch gut begründet ist, ist das Haftungsrisiko des Arztes natürlich deutlich geringer", betont Stöger. Grundsätzlich gilt laut Stöger: "Wenn der Mediziner die Regeln der ärztlichen Kunst und den Stand der medizinischen Wissenschaft nicht verlässt und sinnvoll begründen kann, warum er ein Präparat außerhalb des Zulassungsbereichs einsetzt, haftet er nicht bei jeder Nebenwirkung und macht sich auch nicht strafbar."
Je weiter man sich von einer klassischen Zulassung wegbewegt, "desto besser muss man begründen und dokumentieren – bis hin zur schriftlichen Einverständniserklärung durch den Patienten", sagt Zeitlinger. Doch selbst eine solche kann nicht alles wettmachen. "Der Arzt hat eine Sorgfaltspflicht, das heißt, er muss nach dem Stand der ärztlichen Kunde behandeln. Das erlaubt vieles abseits einer formellen Zulassung, wenn man es sehr gut begründen kann."
Mögliche strafrechtliche Folgen, wenn Datengrundlage fehlt
Anders liegt der Fall, wenn es für eine Anwendung außerhalb des Zulassungsbereichs keine fundierte Datengrundlage gibt, betont Stöger. Ein prominentes Beispiel dafür ist der Einsatz des Anti-Parasiten-Präparates Ivermectin gegen Covid-19. Die unabhängige Cochrane-Collaboration kam zu dem Schluss: "Wir fanden keine Evidenz, die den Einsatz von Ivermectin zur Behandlung von Covid-19 oder Prävention einer Covid-19-Infektion stützt." Darüber hinaus warnte sogar der Hersteller vor einer derartigen Anwendung.
"Wenn ein Arzt ein Medikament gegen eine Krankheit verschreibt, für die das Präparat keine Zulassung hat und keine ausreichenden oder gar keine Studiendaten vorliegen, ist das Risiko für den Arzt, bei erlittenen körperlichen Schäden auf Schadenersatz geklagt zu werden, sehr hoch", so Stöger. Sollten die gesundheitlichen Beeinträchtigungen schwerwiegend sein, könne das auch strafrechtlich relevant sein und eine Anzeige wegen schwerer Körperverletzung nach sich ziehen. "Und auch disziplinarrechtliche Folgen sind dann sehr wahrscheinlich."
Ein Sonderfall ist der "Compassionate Use" ("Anwendung aus Mitgefühl"): Hier bewilligt die Arzneimittelbehörde eine zeitlich beschränkte Ausnahmegenehmigung für den Einsatz eines noch nicht zugelassenen Medikaments für eine definierte Gruppe von Patienten, die mit zugelassenen Arzneimitteln nicht zufriedenstellend behandelt werden können. Voraussetzung ist, dass aufgrund wissenschaftlicher Daten eine realistische Wahrscheinlichkeit für therapeutischen Nutzen besteht. Stöger: "Das gibt Arzt und Patient Sicherheit."
Der explizite Wunsch einer Patientin oder eines Patienten nach einer nicht zugelassenen Therapie, die eindeutig nicht dem Stand der Wissenschaft entspricht, entlastet den Arzt übrigens nicht, betont Stöger. Zeitlinger warnt vor hochexperimentellen, oft teuren Therapien, "die von Ärzten in irgendwelchen Hinterzimmern verabreicht werden und wo vulnerable Personen ausgenützt werden, die womöglich um ihr Leben oder das ihres Kindes bangen."
Und wie ist das, wenn ein Vertreter eines nicht-ärztlichen Berufs ein Verfahren oder ein Präparat mit einer "heilenden Wirkung" anbietet? Stöger: "Wenn diejenige oder derjenige den Eindruck erweckt, eine heilende Therapie anwenden zu können, dann ist das eine Verletzung des Arztvorbehaltes, weil eine scheinbar ärztliche Tätigkeit ausgeübt wird. Und eine solche ist ausdrücklich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten."
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