Kinder ohne Arzt: Warum jede zehnte Kassenpraxis nicht besetzt ist
Seit vier Jahren sucht Lilienfeld einen Kinderarzt. 16 Mal wurde die Praxis mit Kassenvertrag schon ausgeschrieben – erfolglos. Die niederösterreichische Gemeinde ist kein Einzelfall. Jede zehnte Kinderarztpraxis bleibt unbesetzt (siehe Grafik). Die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) will jetzt aufrütteln.
"Wir wollen nicht jammern, sondern Lösungen aufzeigen", sagte ÖGKJ-Präsidentin Daniela Karall bei einer Pressekonferenz. "Schließlich soll jedes Kind einen kostenfreien Zugang zu einem Kinderarzt haben." Das ist nämlich keine Selbstverständlichkeit: Viele Eltern nehmen lieber Geld in die Hand und suchen einen Wahlarzt auf. Die Situation wird sich sogar noch zuspitzen: Die Hälfte aller Pädiater geht in den kommenden zehn Jahren in Pension.
Was also könnte die Politik tun, um dem Mangel entgegenzuwirken? Für Peter Voitl muss man anerkennen, "dass sich in der Medizin derzeit ein großer Systemwandel vollzieht". Wie die Zukunft aussehen könnte, das zeigt der Kinderarzt im Kleinen: Er leitet eine Gruppenpraxis, in der nicht nur Kinderärzte mit verschiedenen Schwerpunkten arbeiten, sondern auch Therapeuten wie Logopäden.
Teamwork
"Junge Mediziner wollen heute im Team arbeiten", sagt sein junger Kollege Andreas Trobisch. "Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist heute vielen wichtig. Zudem scheuen auch viele das Risiko, selbstständig zu sein – sie sind lieber angestellt." Darauf müsse die Politik reagieren, meint Reinhold Kerbl vom Landeskrankenhaus Leoben.
Die ÖGKJ hat deshalb zehn Vorschläge ausgearbeitet. "Am zielführendsten scheint ihm, dass man die Zusammenarbeit von Spitälern und niedergelassenen Ärzten verbessert. Und dass man die Ausbildung der Jungmediziner in den Arztpraxen mit öffentlichen Geldern fördert."
Denn wer junge Kollegen als Praktikanten für ein paar Monate in seiner Praxis hat, der hat "einen hohen Aufwand, ohne dass man als Praxis davon profitiert", weiß Holger Förster, Kinderarzt in Salzburg. Er selbst arbeitet übrigens tageweise im Spital – um so den Kontakt zwischen niedergelassenen und Spitalsärzten zu intensivieren.
Sein Leobener Kollege Kerbl versucht derzeit, Jungmedizinern speziell für die Region Obersteiermark auszubilden. "Ich will sie zumindest moralisch verpflichten, dass sie später eine der Praxen in der Nähe übernehmen, die demnächst frei werden."
Das allein wird nicht ausreichen: "Das Geld ist für junge Ärzte zwar nicht der ausschlaggebende Grund dafür, keine Praxis zu übernehmen", meint Kerbl. Dennoch spiele es mit eine Rolle, wie dieses Beispiel zeige: "Seit 1994 ist die Vergütung für Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen unverändert." Nachsatz: "Welcher Handwerker würde noch zu einem Stundensatz wie vor 26 Jahren arbeiten?" Überhaupt müsse der Faktor Zeit anders vergütet werden: "Manche der kleinen Patienten brauchen eben unsere längere Aufmerksamkeit."
Neu organisieren
Man müsse auch über andere Organisationsformen nachdenken, meint Peter Voitl: "Das könnten Primärversorgungszentren sein, wie es sie bei der Allgemeinmedizin gibt. Oder man schafft Netzwerke unter Ärzten, die dann absprechen, zu welchen Tageszeiten und an welchen Wochentagen sie offen halten."
So lange Kinderärzte fehlen, fahren Eltern entweder manchmal bis zu 80 Kilometer in eine Praxis. Oder sie suchen Allgemeinmediziner auf, deren Pädiatrie-Ausbildung gerade einmal drei Monate dauert – zu wenig. Wenn das Kind dann mehr hat als nur einen Schnupfen, suchen die Eltern dann erst recht wieder einen Facharzt auf oder fahren in ein Spital.
"Für Therapien gibt es Entwicklungsfenster"
Aufmerksamkeitsdefizite, Angststörungen, Autismus-Verdacht. Caroline Culen von der Liga für Kindergesundheit (Kinderliga) könnte die Liste der Problembereiche endlos fortsetzen. 80.000 Therapieplätze fehlen, warnte die Kinderliga vor zwei Jahren. Wenn es um die psychische Gesundheit geht, sind Hilfen immer noch Mangelware, beobachtet sie.
"Ein Dilemma der Kinderärzte ist, dass sie kaum weitergehende Maßnahmen empfehlen können. Für Logo-, Psycho- oder Ergotherapie gibt es zu wenig kostenlose Angebote, auch für Elternberatung. Wer bezahlen kann, bekommt alles. Aber eine längere Therapie können sich viele nicht leisten. Da kommt es nicht einmal zu einer Diagnose", kritisiert Culen. Das System lasse die motivierten Ärzte im Stich. Denn bei Kindern ist auch ein halbes Jahr Wartezeit ein Problem, "weil es Entwicklungsfenster gibt. Daher würde eine schnelle Versorgung mit Therapie die Folgeschäden reduzieren."
Die neue Österreichische Gesundheitskasse sollte eine bundesweite Leistungsharmonisierung und einen Ausbau an Therapieangeboten für Kinder und Jugendliche bringen. Davon sieht sie kaum etwas, ärgert sich Culen. Aus dem geplanten Mutter-Kind-Pass sei das Thema psychische Gesundheit eliminiert worden.
Auch die Wiener Patientenanwältin Sigrid Pilz kritisiert die mangelhafte Versorgung mit Kinderpsychotherapeuten und -psychiatern. "Da braucht man wesentlich mehr kassenfinanzierte Psychotherapie und mehr Ausbildungsplätze für Kinderpsychiater, damit die Kassenstellen besetzt werden können. Eltern sollten nicht auf das private Angebot angewiesen sein."
Stark verbessert habe sich die Koordination des Angebots für Geburten in Wiener Spitälern, bestätigt Sigrid Pilz. Die beim KAV eingerichtete zentrale Geburtsanmeldung führte dazu, dass alle Schwangeren einen geeigneten Platz bekommen. Man gibt drei Spitäler an und bekommt vielleicht nicht das Wunschspital, aber einen sicheren Platz. "In den wenigen Beschwerdefällen, die bei mir gelandet sind, haben wir eine Lösung gefunden."
Aus der Schule kommen derzeit Hilferufe: Für Kinder mit Beeinträchtigungen gebe es zu wenig geschultes Personal. Die Zukunftsperspektive? Die Grundkenntnisse in Sonderpädagogik bei allen neuen Pädagogen wurden etwas voreilig angepriesen, kritisiert eine Studentin: "In der allgemeinen Ausbildung sind das drei Vorlesungen. Und den Schwerpunkt Inklusion wählen nur wenige."
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