Um mögliche Risikofaktoren in der menschlichen DNA aufzuspüren, analysierte man Gendaten von über fünf Millionen Menschen aus 29 Ländern. Wobei jeder vierte Studienteilnehmende nicht europäischer Abstammung war und damit ein beträchtlicher Teil der Stichprobe etwa Personen aus dem afrikanischen oder asiatischen Raum stammte. Was wiederum, das betonen die Fachleute der Universität Edinburgh und des King's College London, die globale Aussagekraft der Studie erhöhe. Erst durch die – in früheren Studien oft vernachlässigte – Diversität der Stichprobe sei man auf gänzlich neue Risikofaktoren gestoßen.
In Summe konnten 700 Genvariationen mit der Entwicklung von Depressionen in Verbindung gebracht werden, rund 300 davon waren bislang nicht in diesem Zusammenhang diskutiert worden. Isoliert betrachtet seien die Effekte jeder einzelnen Variation zwar gering, besitzt eine Person allerdings mehrere, könne das bei der Depressionsneigung zum Tragen kommen, so die Studienautorinnen und -autoren.
Genetisch bedingte Schwierigkeiten in der Emotionsregulation
Die Veränderungen an bestimmten Stellen der DNA wurden mit neuronalen Aktivitäten in mehreren Hirnregionen in Verbindung gebracht, darunter Bereiche, die Emotionen steuern.
Für Martin Aigner, Leiter der Klinischen Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin am Universitätsklinikum Tulln, ist das wenig überraschend: "Im Bereich der affektiven Störungen, zu denen die Depression zählt, läuft vieles über Kompetenzen in der Emotionskontrolle." Im Kern seien diese Störungen oft auf Schwierigkeiten in der Emotionsregulation, also der Fähigkeit, eigene Gefühle und damit verbundene Reaktionen bewusst zu beeinflussen und zu steuern, zurückzuführen. Kompetenzen, die für Menschen mit bestimmten genetischen Voraussetzungen schwieriger zu erlernen sein könnten.
Die Frage, inwieweit die Entstehung psychischer Erkrankungen in der individuellen Biologie oder sozio-psychologischen Umwelteinflüssen wurzelt, beschäftigt die Wissenschaft schon viele Jahrzehnte. Inzwischen geht man von einem multifaktoriellen Geschehen aus: Gene, Psyche und soziales Umfeld spielen – je nach Erkrankung in unterschiedlichem Ausmaß – eine Rolle.
"Letztlich ist es nicht neu, dass es bei Depressionen wie bei allen psychischen Erkrankungen zu Interaktionen zwischen Lebensgeschichte, sozialem Umfeld, aktuellen Belastungen und Biologie kommt", beurteilt Psychiater Johannes Wancata, früherer Leiter der Klinischen Abteilung für Sozialpsychiatrie der Universitätsklinik für Psychiatrie an der MedUni Wien, die aktuelle Studie. "Ob jemand bei einer bestimmten Belastung eine Depression entwickelt oder nicht, hängt also erwiesenermaßen auch von der Biologie ab."
Hoffnungen hinsichtlich Früherkennung und Therapie
Potenzial sehen die Forschenden vor allem hinsichtlich Früherkennung und Therapie von Depressionen. "Es ist bei Erkrankungen aller Art wichtig, nach Risikofaktoren zu suchen, um frühzeitig Diagnosen stellen zu können und mit entsprechenden Maßnahmen zu verhindern, dass eine Störung auftritt, oder einen schweren Verlauf nimmt", bestätigt Aigner, der davon ausgeht, dass künftig noch mehr genetische Risikofaktoren für Depressionen offengelegt werden. Genanalysen seien durch die Corona-Pandemie günstiger und breiter verfügbar geworden. "Die Zeit wird zeigen, wie stark sie in den klinischen Alltag der Psychiatrie einmünden werden", sagt er.
Auch bei der Behandlung eröffnen derart gelagerte Forschungen spezifische Lichtblicke, weiß Wancata: "Es gibt zum einen die Hoffnung, aufgrund der Genetik vorherzusagen, ob jemand auf ein Medikament besser anspricht als auf ein anderes. Und zum anderen kann gelingen, künftig bessere Medikamente zu entwickeln."
Bereits in der aktuellen Studie untersuchte man mehr als 1.600 Medikamente dahingehend, ob sie sich auf die auffälligen Gene auswirken. Neben erwartbaren Effekten bei Antidepressiva konnten auch bei Präparaten, die bei chronischen Schmerzen, Epilepsie, Angststörungen oder Narkolepsie ("Schlafkrankheit") eingesetzt werden, Wirkungen nachgewiesen werden. In klinischen Versuchen soll das Potenzial dieser Medikamente bei der Depressionstherapie gezielter erforscht werden.
"Was im Leben einer Person passiert ist"
In welchem Ausmaß das Erbgut die Entwicklung von depressiven Zuständen befördert, ist je nach Depressionsart unterschiedlich, beschreibt Aigner: "Bei der unipolaren Depression, wo die gedrückte Stimmung über einen bestimmten Zeitraum anhält, liegt die Beteiligungen bei rund 30 Prozent, bei der bipolaren, wo sich depressive und manische Phasen abwechseln, bei bis zu zwei Drittel."
Gerade bei der klassischen Depression lasse sich demzufolge "viel darüber erklären, was im Leben einer Person passiert ist", sagt Aigner. Das betreffe soziale Faktoren, Stress und Bindungserfahrungen in der Kindheit ebenso wie frühe Infektionen. Die neue Studie lasse den Entstehungsweg über die Gene jedenfalls nachvollziehbarer werden, "aber man darf sowohl bei der Diagnose als auch bei der Therapie keinesfalls psychosoziale Aspekte außer Acht lassen".
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