Neue Erkenntnis: Depressionen liegen weder in den Genen, noch im Gehirn
Sie zählen zu den häufigsten psychischen Störungen, sind noch immer tabuisiert und unterschätzt: Depressionen sind als ernstzunehmende Krankheit definiert und sollten behandelt werden. Symptome wie Freudlosigkeit, Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit oder gedrückte Stimmung belasten die Betroffenen ebenso wie die Gesellschaft. Warum manche Menschen daran erkranken und andere nicht, ist noch immer nicht geklärt.
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Nun liefert eine große Untersuchung deutscher Wissenschafter überraschende Hinweise.
Die Studie erschien im renommierten Fachjournal JAMA Psychiatry darauf hin, dass die Ursache nicht in den Genen oder im Gehirn liegt.
Dieser Ansatz ist nicht neu - er wird seit rund 200 Jahren immer wieder diskutiert.
Großer Datenpool wurde untersucht
Forschende der Universitäten Münster, Bonn sowie dem Forschungszentrum Jülich hatten die Daten von 1.809 erwachsenen Personen mit modernsten bildgebenden Verfahren und Analysemethoden untersucht. Bei 861 davon lag die ärztliche Diagnose Depression vor.
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Lösen Depressionen Hirnveränderungen aus?
Der Ansatz, dass eine psychische Erkrankung im Betroffenen neurobiologische Unterschiede im Gegensatz zu Gesunden zeigt, wird seit rund 30 Jahren in der Psychiatrie verfolgt. "Die Identifizierung neurobiologischer Unterschiede ist seit Jahrzehnten eine wichtige Stütze der klinischen Neurowissenschaften", heißt es in der aktuellen Studie.
Doch immer wieder gibt es auch Kritik an der Sichtweise, dass psychische Störungen eine Folge von Ungleichgewicht in der Biochemie der Zellen des Gehirns seien. Vor allem jüngste Meta-Analysen hätten Bedenken "an der klinischen Relevanz von Hirnveränderungen bei Depressionen" aufkommen lassen.
Die deutsche Forschergruppe stellte sich daher die Frage: "Welche neurobiolgischen Unterschiede gibt es zwischen gesunden Menschen und Menschen mit Depressionen?"
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Faktoren für die Entstehung einer Depression
Die Ergebnisse der aktuellen Studie aus Deutschland deuten allerdings darauf hin, dass andere Faktoren für die Entstehung einer Depression stärkeres Gewicht haben. Es zeigte sich, dass die neurobiologischen Unterschiede zwischen Patienten und Gesunden sehr klein waren. Je nachdem, welches Kriterium ausgewählt wurde, waren die Resultate in den beiden Gruppen zu 87 bis 95 Prozent gleich. Die Studienautoren betonen selbst, dass "die Abweichungen zwischen Patienten und gesunden Kontrollpersonen bemerkenswert gering" waren.
Sie schlussfolgern aus ihren Ergebnissen: "Sinnvolle Outcome-Messungen" oder spezielle Ansätze müssten ermöglicht werden. Denn damit ließe sich das durchaus vorhandene Potenzial für Personalisierung in der klinischen Praxis erhöhen.
Depressionen sind weltweit häufig
Laut Weltgesundheitsorganisation WHO leidet etwa einer von 20 Erwachsenen an einer Depression. Sie ist etwa gekennzeichnet von ständiger Müdigkeit, Energiemangel, Reizbarkeit, Ängsten, zunehmender Lustlosigkeit bis hin zu Apathie, missmutiger Stimmung, Schlafstörungen und Appetitlosigkeit. Die Ursachen sind nicht vollends geklärt, sie liegen jedoch nicht an einer bestimmten Ursache. Vermutet wird ein Zusammenspiel psychosozialer und körperlicher Faktoren.
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Wie das Risiko für eine Depression reduziert werden kann
- Guter Schlaf: Schlaf hatte den größten Einfluss auf das Depressionsrisiko. Es war um 22 Prozent geringer, wenn die Personen zwischen sieben und neun Stunden pro Nacht schliefen.
- Häufige soziale Kontakte: Häufige soziale Kontakte mit Freunden, Verwandten, Bekannten und Arbeitskollegen reduzierten das Depressionsrisiko um 18 Prozent. Sozialkontakte schützten zudem am stärksten vor wiederkehrenden depressiven Störungen.
- Nicht rauchen: Nichtraucher hatten ein um 20 Prozent geringeres Depressionsrisiko.
- Regelmäßige körperliche Aktivität: 14 Prozent geringer war das Risiko bei jenen, die regelmäßig körperlich aktiv waren.
- Wenig bis mäßig sitzende Tätigkeiten: Wer wenig Zeit im Sitzen verbringt, reduzierte sein Depressionsrisiko um 13 Prozent.
- Mäßiger Alkoholkonsum: Wird wenig Alkohol getrunken, reduzierte das das Depressionsrisiko um elf Prozent.
- Gesunde Ernährung: Wer sich gesund ernährt, hat laut den Wissenschaftlern ein um sechs Prozent geringeres Risiko für eine Depression.
Auch Einfluss der Genetik wird untersucht
Erst kürzlich untersuchten britische Forscherinnen und Forscher aus Cambridge, welche Risikofaktoren für die Entstehung einer Depression relevant sind. Dazu analysierten sie Daten von rund 300.000 Erwachsenen, 13.000 davon litten an Depression – über einen Zeitraum von neun Jahren Auch das genetische Risiko für Depression wurde untersucht. Für jeden Studienteilnehmer wurde ein genetischer Risikoscore ermittelt. Dieser Wert basierte auf der Anzahl der genetischen Varianten, die eine Person in sich trägt und von denen bekannt ist, dass sie mit dem Risiko einer Depression zusammenhängen.
Lebensstil ist wesentlicher Faktor
Bei den Teilnehmern mit dem niedrigsten genetischen Risikowert war die Wahrscheinlichkeit, an einer Depression zu erkranken, um 25 Prozent geringer als bei den Teilnehmern mit dem höchsten Wert. Laut den Forschern hat die Genetik also einen wesentlich geringeren Einfluss als der Lebensstil. Dies galt auch unabhängig von der Höhe des genetischen Risikos. "Obwohl unsere DNA – die genetische Ausstattung, die wir erhalten haben – unser Depressionsrisiko erhöhen kann, haben wir gezeigt, dass ein gesunder Lebensstil potenziell wichtiger ist", sagt Barbara Sahakian von der Abteilung für Psychiatrie an der University of Cambridge.
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"Einige dieser Lebensstilfaktoren sind Dinge, die wir bis zu einem gewissen Grad kontrollieren können. Wenn wir also versuchen, Wege zu finden, sie zu verbessern, zum Beispiel dafür zu sorgen, dass wir gut schlafen und uns mit Freunden treffen, könnte das einen echten Unterschied im Leben der Menschen ausmachen."
Das britische Team fand heraus, dass der Weg vom Lebensstil zu den Immun- und Stoffwechselfunktionen der bedeutendste war. Mit anderen Worten: Ein schlechterer Lebensstil wirkt sich auf unser Immunsystem und unseren Stoffwechsel aus, was wiederum unser Risiko für Depressionen erhöht.
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