„An diesen fünf Symptomen erkennst du, ob du depressiv bist.“ Solche und ähnliche Videos trenden in den sozialen Medien und suggerieren Jugendlichen, dass sie sich selbst eine Diagnose stellen können. Die Psychotherapeutin Nina Jordis erklärt: „Viele Jugendliche suchen sich heute über Social Media Hilfe und versuchen, ihren Zustand besser zu verstehen. An viralen Geschichten und den Klickzahlen sieht man, dass das Interesse an dem Thema riesig ist.“
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Zum einen habe das positive Seiten, weil junge Menschen dadurch besser aufgeklärt werden und sich in ihrer Situation weniger allein gelassen und besser verstanden fühlen. Doch das Phänomen hat auch viele negative Faktoren, warnt Jordis: „Eine Diagnose ist sehr schwierig zu stellen und das sollte man Fachleuten überlassen.“
Besonders am eingangs erwähnten Beispiel zeigt sich das Potenzial an falschen Diagnosen: „Da werden Ausprägungsmerkmale genannt, von denen wir alle etwas haben. Das heißt aber noch lange nicht, dass man die Kriterien für eine Depression erfüllt.“
Ohne richtige Diagnose und Behandlung, sind negative Reaktionen bis hin zu Panikattacken möglich
Auch in Bezug auf Therapiemöglichkeiten sind viele Apps und Techniken, die über Social Media vermittelt werden, eher oberflächlich, warnt Jordis: „Psychotherapie ist etwas sehr Individuelles. Nur wenn man die richtige Diagnose hat, kann man das richtige Behandlungsverfahren wählen.“
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Gefährlich wird es, wenn man auf eigene Faust versucht, Interventionen umzusetzen. „Das kann negative Reaktionen hervorrufen. Der User sitzt dann alleine mit seinen Gefühlen da und weiß nicht, wie er aus dieser Panikattacke, Wut oder Angst herauskommen soll.“ Deshalb sei es wichtig, dass negative oder belastende Gefühle von jemandem aufgefangen werden, der professionell dafür ausgebildet ist.
Viele Übungen in den sozialen Medien können präventiv genützt werden
Die Therapeutin sieht in Social Media dennoch Potenzial für eine präventive Nutzung: „Es gibt viele Übungen, die dazu dienen, Grenzen zu setzen, auf sich aufzupassen oder auch die Selbstwirksamkeit zu stärken. Das kann im präventiven Rahmen sehr hilfreich sein. Aber auch, um eine Therapie zu begleiten – aber nicht ausschließlich.“
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Bei der Wahl des Therapeuten oder der Therapeutin rät Jordis, aufs eigene Bauchgefühl zu hören: „Wenn man das Gefühl hat, man sitzt jemandem gegenüber, der einen nicht versteht oder nicht sympathisch ist, rate ich immer dazu, weiterzusuchen. Damit wir eine Wirkung erzielen, brauchen wir die Beziehung zwischen den Therapeuten und den Patienten oder Klienten.“ Und das können Apps und Videos auf Social Media definitiv nicht bieten.
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