Delta-Welle: Wie gut schützen die Impfstoffe tatsächlich?
Ist Delta nur infektiöser oder auch gefährlicher?
"Delta ist scheinbar um 60 Prozent infektiöser als die vorher zirkulierende Alpha-Variante", sagt der Virologe Norbert Nowotny, Vetmeduni Wien. Die Delta-Variante verursacht eine 1.000 Mal höhere Virenlast als bisher bekannte Varianten, postulierten kürzlich chinesische Forscher. Das hochansteckende Potenzial der Mutation ist auch laut Günter Weiss, Infektiologe an der Medizinischen Universität Innsbruck, unumstritten.
"Bisher gibt es aber keine eindeutigen Hinweise, dass die Verläufe schwerer sind." Derzeit sei die Zahl der Hospitalisierten noch überschaubar und auf Ungeimpfte beschränkt. "Die Durchimpfungsrate ist in den Hochrisikogruppen glücklicherweise recht hoch." Die Tödlichkeit der Variante werde man erst retrospektiv beurteilen können, "wobei es aufgrund des Impffortschritts immer schwieriger wird, Varianten direkt zu vergleichen".
Wie gut schützen die Impfstoffe?
Laut einer AGES-Untersuchung sind bei Geimpften Infektionen mit Symptomen um 91 Prozent seltener als bei Ungeimpften. Während der Schutz vor schweren Verläufen nach wie vor sehr hoch ist, scheint er bei leichten Infektionen zurückzugehen. "Bei der Delta-Variante braucht es 10-mal so viele Antikörper, um das Virus zu neutralisieren", erklärt Weiss. Außerdem lasse der Impfschutz mit der Zeit nach.
Sind Booster-Impfungen für jeden notwendig?
Ob wirklich jeder eine dritte Impfung benötigt, ist derzeit offen. "Der Zeitpunkt, an dem wir Boosterimpfungen für alle benötigen, ist gekommen, wenn wir unter den Geimpften einen Anstieg der Spitalsaufnahmen bzw. der Todesfälle sehen. Und das sehen wir derzeit nicht", sagte kürzlich Andrew Pollard, Vorsitzender des britischen Ausschusses für Impfungen.
Im österreichischen Gesundheitsministerium heißt es, ob und wann Auffrischungsimpfungen für gesunde Personen notwendig sein werden, sei auf Basis der aktuellen Studienlage noch nicht abschließend bewertbar. Weiss sieht Auffrischungsimpfungen als wesentlichen Schlüssel dafür, "dass wir gut durch den Winter kommen und die Zahl der erkrankten Risikopatienten in den Spitälern nicht wieder rasant ansteigt". Vorrangig sollten ältere Menschen ab 70 Jahren sowie chronisch Kranke, bei denen die Vollimmunisierung länger als sechs Monate zurückliegt, erneut geimpft werden.
Soll man Kinder von 12 bis 17 Jahren impfen?
Bei rund einem von 1.000 Kindern verläuft Covid-19 schwer, erklärt Kinderarzt Reinhold Kerbl. Mit einer vierten Welle "könnten mehrere hundert Hospitalisierungen bei Kindern hinzukommen. Das ist das wichtigste Argument für eine Impfung."
Zurückhaltender ist Thomas Mertens, Chef der Ständigen Impfkommission in Deutschland, die noch keine allgemeine Impfempfehlung für 12- bis 17-Jährige ausgesprochen hat. "Es wäre entscheidend, mit dem reichlich verfügbaren Impfstoff die 18- bis 59-Jährigen vollständig zu impfen. Es ist sehr klar, dass davon der Verlauf der 'nächsten Welle' abhängt und nur sehr marginal von der Impfung der Kinder", sagte Mertens in der Süddeutschen Zeitung. Es gebe keine Evidenz, dass die Delta-Variante Kinder kränker machen würde als bisherige Virusvarianten. In den USA hätten Kinderimpfungen aufgrund des schlechteren Gesundheitszustandes (z. B. mehr Adipositas) eine größere Bedeutung.
Dass in den USA bereits mehr als zehn Millionen Kinder geimpft wurden und keine besonderen Vorkommnisse aufgetreten sind, sei laut Mertens noch kein Argument: Man warte auf wissenschaftlich dokumentierte Daten.
In den USA entfallen derzeit 15 Prozent aller Covid-19-Fälle auf Kinder. Einige Ärzte berichten von einer Häufung schwerer Verläufe – möglicherweise als Folge der grassierenden Delta-Variante. Weiss warnt vor Verzerrungseffekten: "Die Infektionen verteilen sich jetzt auf andere Altersgruppen, es gibt aber derzeit keine Indizien dafür, dass die Delta-Variante bei Kindern anders zu bewerten wäre als frühere Varianten."
Wie groß ist die Infektionsgefahr für Geimpfte?
Laut einer britischen Studie haben Geimpfte ein um rund 50 Prozent niedrigeres Risiko sich mit dem Virus anzustecken – im Vergleich zu Ungeimpften. Sie sind auch kürzer infektiös: Nach drei bis vier Tagen sinkt die Viruslast bereits so stark ab, dass von keiner Infektion mehr auszugehen ist, bei Ungeimpften sind es im Schnitt zehn Tage. Vollimmunisierte scheiden weniger Viren aus, bei Ungeimpften ist das Infektionsrisiko um das Acht- bis Zehnfache höher.
Wie viele Impfdurchbrüche gibt es?
Bis Anfang August steckten sich in Österreich nach der zweiten Dosis 1.560 Personen an – insgesamt waren zu diesem Zeitpunkt 4,6 Millionen vollständig geimpft. Laut der US-Gesundheitsbehörde CDC machen Durchbruchsinfektionen weniger als ein Prozent aller Infektionen aus. "Es scheint so zu sein, dass Impfdurchbrüche wahrscheinlicher werden, je niedriger der Antikörperspiegel ist", sagt Weiss. Viele Geimpfte hätten dennoch meist milde Verläufe und wenig Symptome. Menschen mit Vorerkrankungen und schwachem Immunsystem neigen eher zu Durchbruchinfektionen.
Wie groß ist das Risiko für Vollimmunisierte, auf der Intensivstation zu landen?
Von 31 Personen, die am Mittwoch der Vorwoche intensivmedizinisch betreut werden mussten, waren 24 ungeimpft, zwei infizierten sich vor der zweiten Teilimpfung, ergab eine Profil-Umfrage. Derzeit sei die Zahl der Hospitalisierten überschaubar und auf Ungeimpfte beschränkt, schildert Weiss. "Durch Delta sind mehr Geimpfte infiziert als bei anderen Varianten, aber sie landen derzeit nicht auf der Intensivstation."
Wie realistisch ist die Herdenimmunität?
Herdenimmunität – der indirekte Schutz von Ungeimpften durch Geimpfte – zu erreichen sei mit der derzeit dominanten Delta-Variante keine Möglichkeit, erklärte Andrew Pollard, Professor für pädiatrische Infektionen und Immunität an der Universität Oxford, kürzlich gegenüber britischen Abgeordneten. Der Grund: Die Delta-Variante kann auch Menschen infizieren, die geimpft sind – und diese können die Infektion auch weitergeben. Allerdings in deutlich geringerem Ausmaß als Ungeimpfte, diese haben das höchste Infektionsrisiko.
Eine hohe Durchimpfungsrate bleibt also das wirkungsvollste Mittel zur Eindämmung der Pandemie. Island erlebt derzeit seine bisher größte Covid-Welle, obwohl 96 Prozent der Frauen und 90 Prozent der Männer ab 16 Jahren zumindest eine Teilimpfung erhalten haben. "Es sei abwegig anzunehmen, dass eine erhöhte Impfrate zu einer Herdenimmunität führen wird", sagt Elías Eybórsson von der Universität von Island. Aber: Der größte Teil der Infizierten hat minimale oder gar keine Symptome und weniger Patienten mit Covid-19 müssen in Spitalsbehandlung.
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