Blick in die Corona-Glaskugel: Wie geht es mit den Varianten weiter?
Alpha, Beta, Gamma, Delta, dann natürlich Omikron mit BA.1 und BA.2 und weiteren Subtypen, aber auch viele bei uns weniger bekannte Varianten wie Kappa in Indien, Lambda in Peru oder Zeta in Brasilien: Weltweit wurden seit dem ersten Auftreten des neuen Coronavirus SARS-CoV-2 in Wuhan Tausende Varianten katalogisiert, die allermeisten ohne Bedeutung für den Menschen und auch ohne griechischen Buchstaben. Könnte es also nicht vielleicht sein, dass das Virus sein Veränderungspotential langsam ausgeschöpft hat? Die Antwort der Wissenschaft darauf ist eindeutig. Und ein österreichisches Team aus Wissenschafterinnen und Wissenschaftern hat ein umfangreiches Arbeitspapier erstellt, das Szenarien und Maßnahmen für den Herbst aufzeigt.
"Wir können davon ausgehen, dass sich das Virus weiter verändern wird", sagte der Molekularbiologe und Immunologe Andreas Bergthaler Freitagnachmittag in seinem Vortrag "Was dürfen wir hinsichtlich neuer SARS-CoV-2-Varianten für den Herbst erwarten?" (nachzusehen in obenstehendem Video, ab 1:50:50) anlässlich des "Tags der Immunologie" an der MedUni Wien. Und: "Es gibt keinen Anhaltspunkt, dass das Virus den Plafond erreicht hätte, es quasi ausmutiert ist und sich nicht mehr weiter verändern kann." Bergthaler ist Professor für Molekulare Immunologie an der MedUni Wien und Leiter des Instituts für Hygiene und Angewandte Immunologie.
Die entscheidende Frage sei jetzt, in welche Richtung werde es sich bis zum Herbst verändern, "und das ist etwas, was wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht wirklich wissen".
Bergthaler zeigte einen Stammbaum des Virus, wie es sich seit dem Übertritt vom Tier auf den Menschen mit Dezember 2019 verändert hat: "Sie sehen die Alpha-Variante, Beta, dann Gamma und ab Sommer 2021 die Delta-Variante. Aber in dieser Grafik ist von Omikron keine Spur."
Kein Wunder: "Ich habe ganz bewusst eine Grafik vom August 2021 genommen. Damals gab es keine Anhaltspunkte, dass wenige Monate später auf einmal wieder eine neue Variante namens Omikron vor der Tür steht, die das Infektionsgeschehen innerhalb weniger Wochen weltweit dominieren würde."
Das aber bedeutet: "Wir müssen uns damit konfrontieren, dass wir seit zumindest eineinhalb, zwei Jahren immer immer wieder neue Varianten erleben, die relativ unvorhergesehen entstehen."
Und Bergthaler machte noch auf etwas anderes aufmerksam: "Nach Delta hätte man denken können, die nächste Variante, die kommt ist quasi ein Abkömmling, ein Kind der Delta-Variante und dass es in dieselbe Richtung (auf dem Stammbaum, Anm.) weitergehen wird. Dem war aber nicht so. Omikron ist auf einmal auf einem völlig anderen Ast des Stammbaums entstanden."
Und das gebe auch sehr gut die Problematik des In-die-Zukunft-Schauens wider: "Es ist eben nicht vorhersehbar."
Wobei de Umstand, dass das Virus Mutationen ansammelt, nicht unbedingt beunruhigend sei: "Es geht darum, haben diese Mutationen eine klinische Relevanz, betrifft das zum Beispiel auch den Immunschutz?"
Die vier Szenarien für den Herbst
Bergthaler ist auch ein Autor eines Autorenteams an renommierten Wissenschafterinnen und Wissenschaftern der "Covid 19 Future Operations Plattform", das in den vergangenen zwei Monaten ein Arbeitspapier zum Thema "Covid-19: Szenarien für Herbst/Winter 2022 - und darüber hinaus" erstellt hat.
Und das sind die Szenarien im Detail:
- 1. Szenario Bestmöglich: Die Pandemie ist praktisch beendet, es kommen keine weiteren Varianten nach Omikron, es gibt nur mehr unregelmäßig kleine Wellen, der Immunschutz ist intakt und die allermeisten erkranken relativ harmlos, "kaum jemand wird schwer erkranken".
- 2. Szenario Günstig: Es gibt zwar neue Varianten, aber sie sind so ähnlich wie Omikron, sie sind sehr infektiös, führen aber tendenziell nicht oder nur zu wenigen schweren Verläufen. Alle ein bis zwei Jahre könnte es große Infektionswellen geben, der bestehende Immunschutz schützt aber weiterhin vor schweren Erkrankungen."In diesem Szenario hätten wir vielleicht viele Aufnahmen auf den Normalstationen, es könnte dort auch wieder personelle Engpässe geben, aber die Intensivstationen wären nicht betroffen."
- 3. Szenario Mittel: Das Herauskommen aus der Pandemie verlangsamt sich. Auch hier gibt es neue Varianten wie Omikron, aber zum Teil können sie krankmachender sein, und regelmäßig seien hohen Wellen zu erwarten. "Das Gute ist, dass der Immunschutz weitgehend intakt ist." Allerdings: Es könnte hier auch schon zu einer stärkeren, systemkritischen Belastung der Intensivstationen kommen.
- 4. Szenario Ungünstig: Hier unterscheiden die Forscher nochmals zwei Szenarien: 4 a "Pandemie hält an" - das wäre so wie beim Auftreten von Delta, eine neue hochinfektiöse Variante, die auch zu schweren Erkrankungen führt. Der bisher aufgebaute Immunschutz wäre aber zumindest noch teilweise wirksam. Und es gibt das Unterszenario 4 b "Pandemie eskaliert": Hier könnte eine neue Variante den Immunschutz mehr oder weniger komplett umgehen. "Dieses Szenario halte ich aber am Unwahrscheinlichsten", sagt Bergthaler. "Aber dennoch glaube ich ist es wichtig sich die Möglichkeiten vor Augen zu führen, wie sich das Virus verändern kann."
Worauf es noch ankommen wird
Wie der Herbst ablaufen wird, hängt aber nicht nur davon ab, welches dieser Szenarien eintreten wird: "Es gibt weitere Parameter, die entscheidend sein werden. Stichwort antivirale Medikamente, da tut sich sehr viel in der Entwicklung. Es geht um die nächste Generation an Impfstoffen, ob wir die an neue Varianten anpassen zum Beispiel."
Aber auch Wechselwirkungen zwischen Corona und anderen Viren könnten ein Thema werden, etwa Grippe oder RSV (einer der bedeutendsten Erreger von Atemwegsinfektionen bei Kleinkindern).
Und Bergthaler betonte, dass man schon jetzt vorbereitende Maßnahmen treffen sollte: Eine rasch an die Intensität einer neuen Welle anpassbare Test-, Überwachungs- und Impf-Infrastruktur etwa. Oder bauliche Maßnahmen wie mehr Lüftungen und Luftreinigungsgeräte, bessere Unterstützung vulnerabler Gesellschatsschichten oder mehr Unterstützungsangebote bei psychoszialen und stressbezogenen Folgen.
Gut vorbereitet zu sein sei jedenfalls entscheidend, sagt der Immunologe abschließend: "Auch ich weiß nicht wirklich, was uns im Herbst erwartet."
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