"Eltern denken, Babys schlafen Tag und Nacht – bis die Realität einkickt"
Schlafen wie ein Baby. Kaum eine Redensart passt besser für tiefes, erholsames Schlummern. Von der nächtlichen Realität frischgebackener Eltern könnte sie kaum weiter entfernt sein.
"Wenn ein Paar zu Eltern wird, stellen sie fest, dass jemand, der so etwas sagt, wahrscheinlich noch nie eine Nacht mit einem Baby verbracht hat", weiß auch Inga Ahlers. Ahlers ist Expertin für Babyschlaf und berät Mütter und Väter, die mit dem Schlafverhalten ihres Kindes hadern.
Im KURIER-Interview erklärt die deutsche Schlafberaterin, wieso unruhige Nächte in den ersten Lebensmonaten nichts Ungewöhnliches sind, warum sie von sogenannten Schlaftrainings abrät und was Eltern stattdessen tun können.
KURIER: Welche elterlichen Vorstellungen von Babyschlaf sind es, die nach der Geburt mit der Realität kollidieren?
Inga Ahlers: Eltern gehen oft unbedarft in die Elternschaft oder informieren sich intensiv über viele Themen, klammern aber den Schlaf aus. Weil sie denken, das Baby würde anfangs ohnehin Tag und Nacht schlafen. Bis dann die Realität einkickt. Wir haben nach wie vor oft eine falsche Vorstellung davon, wie Babys schlafen. Auch wenn viel Aufklärungsarbeit geleistet wurde. Fakt ist: Babys schlafen nicht durch. In den ersten paar Monaten nehmen das die allermeisten Eltern in Kauf. Wenn die Babys nach einem halben oder dreiviertel Jahr noch immer nicht durchschlafen, wie es oft heißt, sind sie verzweifelt. Das ist verständlich. Auch wir Erwachsene haben ein Schlafbedürfnis. Wenn es nicht erfüllt wird, macht das etwas mit uns.
Bedeutet Durchschlafen bei Babys etwas anderes als bei Erwachsenen?
Wenn Kinder auf die Welt kommen, haben sie einen polyphasischen Schlaf. Sie schlafen fragmentiert, immer mal wieder. Das hat damit zu tun, dass ihr Magen noch klein ist und sie regelmäßig Nahrung zu sich nehmen müssen. Es ist auch aus evolutionärer Sicht normales Verhalten: Wenn unsere frühen Vorfahren geschlafen haben, waren sie Gefahren ausgesetzt. Babys sind zu 100 Prozent davon abhängig, dass Erwachsene sich um sie kümmern. Sie werden wach, um sich rückzuversichern, dass ihre Bezugspersonen noch da sind – der Säbelzahntiger nicht vor ihnen steht. Laut Definition spricht man bei Säuglingen von Durchschlafen, wenn sie von alleine eine Still- oder Fläschchenmahlzeit in der Nacht überspringen. Zum Beispiel nicht nach zwei, sondern nach vier Stunden nach Nahrung verlangen. Das ist schon etwas anderes als das, was wir landläufig unter Durchschlafen verstehen.
Das durchschlafende Baby – ein Mythos also?
Es gibt Babys, die von Anfang an mehrere Stunden am Stück schlafen. Aus meiner Erfahrung ist das eher die Ausnahme. Auch wir Erwachsene schlafen in Zyklen, an den Übergängen kommen wir in eine Aufwachphase, die aber – sofern sie nicht länger als ein paar Minuten dauert – am Morgen nicht erinnerlich ist.
Viele Eltern treibt eine Frage um: Wann wird es besser?
Wichtig ist, dass man ab einem gewissen Alter das Schlafverhalten des Kindes genauer betrachtet. Um zu ergründen, ob es falsche Erwartungen sind, die zu Belastungen führen. Oder ob es tatsächlich ein Problem gibt.
Wann wäre Letzteres der Fall?
Wenn ein Kind mit einem Jahr nachts stündlich wach wird und nach der Brust verlangt, zum Beispiel. Das ist schlafphysiologisch gesehen problematisch – und weder für die Mutter noch für das Kind förderlich. Dass Eltern da am Ende ihrer Kräfte sind, ist in Ordnung. Einem Elternteil in so einer Situation zu sagen, es solle die Zeit genießen und dass Kinder nur einmal so klein sind, halte ich für schwierig. In der Kindermedizin wird davon gesprochen, dass Babys mit einem halben Jahr nachts in der Lage sind, mehrere Stunden am Stück durchzuschlafen. Sie schaffen es theoretisch ohne Hunger durch die Nacht. Aus meiner Sicht sieht es etwas anders aus: Im Schlaf passiert viel, das mit Energieverbrauch verbunden ist. Wenn ein Baby ein oder zwei Mal noch Nahrung aufnehmen mag, ist das absolut okay.
Wie kommt man zu ein bis zwei Mal?
Bei einer Schlafberatung findet man individuelle Lösungen, die allen guttun. Ich empfehle Eltern, Protokoll zu führen, wann das Kind wach ist und was es braucht, um wieder in den Schlaf zu finden. Aber erst, wenn das Kind älter als ein halbes Jahr ist. Davor ist die Schlafarchitektur noch nicht ausgereift genug, als dass Interventionen hilfreich wären. Oft haben sich Einschlafassoziationen eingeschliffen. Es gibt eine Verbindung zwischen Einschlafen und Trinken an der Brust, oder dem Fläschchen. Was dazu führen kann, dass Kinder es nicht schaffen, eigenständig Schlafzyklen zu verbinden, die bei Babys kaum eine Stunde lang sind. Wichtig ist, dass man es nicht hinnimmt, wenn man ein herausfordernd schlafendes Kind hat. Im Grunde muss man dem Kind beibringen, Schlafzyklen zu verbinden – ohne viel Tamtam von außen. Es geht nicht darum, dass Babys lernen müssen, allein zu schlafen. Oft genügt es, sehr starke Reize zu unterlassen, oder auch das Einschlafstillen. Dann schaffen es die Kinder oft gut, längere Phase am Stück zu schlafen. Eltern müssen auch gewillt sein, Dinge zu verändern, um dem Kind zu zeigen, dass es das selbst kann.
Vor allem in den USA greift man dafür auf Sleep Training, Schlaftraining, zurück. Man lässt das Kind im eigenen Zimmer schreien, in der Hoffnung, dass es lernt, allein einzuschlafen.
Das ist das Schlimmste, was man seinem Kind antun kann. Diese Methode folgt vorgefertigten Plänen, die dem Kind übergestülpt werden, ohne auf sein Wohl zu achten. Kein Kind lernt so schlafen. Es lernt, dass niemand kommt, dass sich niemand kümmert, es erleidet Todesangst. Und da es weder fliehen noch kämpfen kann, friert es ein – und schläft irgendwann ein. Mit dramatischen Folgen fürs spätere Leben: Schlaftrainierte Kinder sind später anfälliger für psychische Erkrankungen und Bindungsängste.
Belastbare Studien, die einen kausalen Zusammenhang zwischen Schlaftraining und Bindungsproblemen darlegen, gibt es aber nicht …
Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist es plausibel, dass Babys in Stresssituationen geraten, wenn nicht auf ihr Nähebedürfnis reagiert wird. Es gibt aber unter anderem eine bekannte australische Studie, deren Fazit ist, dass Schlaftraining unbedenklich sei. Diese Studien sind aus vielerlei Gründen umstritten, etwa, weil die Zahl der teilnehmenden Kinder gering ist, die Cortisol-Messungen nicht aussagekräftig sind und die Ergebnisse auf subjektiven Einschätzungen der Eltern beruhen.
Wenn ein Baby weint, reagieren Eltern mit dem natürlichen Reflex, das Baby beruhigen zu wollen. Viele landen am Ende wippend am Gummiball. Ein Fehler?
Ich kann jede Familie verstehen, wo sich das so einschleift. Oft sind das Familien, die von Anfang an ein herausforderndes Kind hatten – zum Beispiel, weil es während der Schwangerschaft oder der Geburt viel Stress ausgesetzt war. Wo gefühlt nichts anderes funktioniert. Ich würde statt starken Einschlafhilfen immer zu natürlichen raten: Sanftes Wiegen zum Beispiel, statt im Elefantengang durch die Wohnung zu schwingen. Ich empfehle, Kinder beim Weinen in ihrer Emotionalität zu begleiten, wenn alle anderen Bedürfnisse versorgt sind. Sie in den Arm zu nehmen und es zusammen auszuhalten.
Populär ist Co-Sleeping – man schläft mit Baby zusammen im Bett. Oft mehrere Jahre lang.
Zusammen zu schlafen entspricht unserem menschlichen Bedürfnis nach Verbundenheit. Laut offiziellen Richtlinien, die das Risiko des Plötzlichen Kindstodes minimieren sollen, sollte das Baby im Zimmer der Eltern in einem eigenen Bett schlafen. Meine persönliche Meinung: Wenn eine Familie zusammen im Familienbett schlafen möchte, sollte sie darauf achten, dass alle anderen Risikofaktoren ausgeschaltet werden: Das Baby sollte nicht am Bauch schlafen und die Eltern nicht rauchen, zum Beispiel. Dann kann man im Familienbett lange gut schlafen. Solange niemand unter der Situation leidet.
Und wenn das doch der Fall ist?
Dann kann man das Kind rausschmeißen (lacht). Nach dem ersten Geburtstag kann man Kinder an ihr eigenes Zimmer gewöhnen. Bitte keine Hauruckaktionen. Die Atmosphäre des Abends und der Nacht hat etwas Besonders, kann aber auch etwas Bedrohliches haben. Im Idealfall zieht man mit dem Kind zusammen ins Kinderzimmer, verbringt die Nächte gemeinsam dort, bis es sich dort wohl und sicher fühlt.
Wenn Sie werdenden Eltern einem Ratschlag in puncto Babyschlaf geben könnten, welcher wäre das?
Mehr auf ihre Intuition zu hören, sich nicht verunsichern zu lassen. Eltern haben meist die richtigen Ideen in sich. Ich habe viele Beratungen, wo mir Eltern sagen: "Ah, das hatte ich mir auch schon überlegt!". Sie sind aber durch die omnipräsente Information on- und offline zunehmend verunsichert und verlieren Vertrauen in ihre elterlichen Instinkte.
Kommentare