Das Kind kann sich einerseits gut beruhigen. Das lässt sich im Gehirn ablesen: In bestimmte Areale fließt besonders viel Oxytocin, auch als Bindungs- oder Kuschelhormon bekannt. Das Kind wird co-reguliert, es lernt mithilfe der Eltern, sich zu entspannen und kann mit sicherem Gefühl die Welt weiter erkunden. Andererseits entwickeln Kinder so auch eine Vorstellung davon, wie gute Beziehungen funktionieren.
Womit kämpfen Mütter und Väter bei der Umsetzung?
Meistens ist es der damit einhergehende Aufwand, der fordernd erlebt wird. Eltern merken, dass sie ein gutes, erweitertes Betreuungsnetz bräuchten, um die Erziehungsaufgaben zwischen Einkaufen, Kochen und Haushalt zu stemmen. Damit meine ich nicht unbedingt den Kindergarten, sondern Menschen, die im Alltag entlasten.
Gerade im ersten Lebensjahr setzen auch Schlafmangel und allgemeine Überforderung zu.
Das lässt sich nicht schönreden. Das ist eine Realität, die strapaziös ist. Ich finde es positiv, dass inzwischen viel mehr über Herausforderungen des Elterndaseins gesprochen wird. Oft sind es unrealistische Idealbilder, die Eltern in die Not stürzen.
Wie lässt sich verhindern, dass man als Elternteil ausbrennt?
Wenn Eltern gut mit den Großeltern und der erweiterten Familie auskommen, kann es ressourcenschonend sein, wenn sich verschiedene Generationen um das Aufwachsen der Jüngsten kümmern. Das ist nicht immer idyllisch, auch diese Eltern erleben Belastungen. Aber sie beklagen seltener totale Erschöpfung.
In urbanen Räumen sind Großeltern oft nicht greifbar.
In Städten beobachten wir tatsächlich eine Verinselung von Kleinfamilien. Ich rate, sich trotzdem ein Netzwerk an Unterstützern aufzubauen: gleichgesinnte Eltern, Freundinnen und Freunde, Nachbarn, denen man vertraut. Wenn man Kinder, vor allem wenn sie älter sind, mal abgeben kann oder nicht selbst vom Fußballverein oder der Musikstunde abholen muss, nimmt das Druck. Ich empfehle auch, den persönlichen Perfektionismus zu hinterfragen. Das Leben mit Kind ist oft wild und anstrengend. Eltern haben verzerrte Erwartungen, die nicht mit der Realität zusammenpassen. Sie anzupassen, kann hilfreich sein. Und dann rate ich, sich Aufgaben und Aktivitäten in der Familie aufzuteilen. Sich nicht gezwungen zu fühlen, jedes Wochenende als Familie zusammen zu verbringen. Sich zu trauen, temporär getrennte Wege zu gehen, damit man dann wieder gut zusammen sein kann. Und – auch das ist wichtig – Eltern sollten ihre Paarbeziehung nicht vergessen. Eine gut funktionierende – wenn auch nicht immer spannungsfreie – Paarbeziehung kann Familien entlasten.
Birgt der bindungsorientierte Ansatz die Gefahr, dass man sich selbst zu stark vernachlässigt?
Das ist sicher ein Thema. Ein sehr kleines Kind im Säuglings- oder auch Kleinkindalter braucht natürlich sehr viele Liebe, Aufmerksamkeit und Unterstützung. Je älter ein Kind wird, desto wichtiger wird es, es altersgerecht mit zumutbaren Frustrationen in Kontakt zu bringen. Zum Beispiel zu sagen: "Ich merke, dass du jetzt gerne mit mir spielen würdest, aber es geht aus diesen und jenen Gründen gerade nicht."
Da erntet man erst mal Wut und Frust – einen Konflikt.
Das stimmt, aber das Ausgestalten dieser Konflikte ist wichtig, weil Kinder so lernen, dass andere Menschen Bedürfnisse und Grenzen haben, die es zu achten gilt. Permanent konfliktvermeidend zu agieren und zu versuchen, durch noch mehr Bindungsangebote Konflikte zu umschiffen, geht für einen Nachmittag gut. Danach ist man erschöpft und explodiert emotional bei einer Kleinigkeit. Es wäre sinnvoller, Konflikte, die sich nicht verhindern lassen, nicht zuvorkommend zu deeskalieren, sondern gemeinsam auszuhalten.
Sollte man dem also Kind vorleben, dass man selbst Grenzen besitzt und wahrt?
Unbedingt. Kinder lernen an unserem Beispiel ganz viel. Wenn Mama und Papa beim Versuch, alles möglich zu machen, ein gequältes Gesicht machen und gar keine Lust auf Interaktion haben, spüren Kinder das. Da ist es besser, "Nein" zu sagen – dann hat man womöglich immer noch nicht sofort seine Ruhe, bleibt aber authentisch.
Müssen Erwachsene mitunter erst lernen, ihre Grenzen besser zu erkennen?
Total. In dieser Hinsicht sind Kinder ein echtes Geschenk. Sie bringen uns sowas von in Kontakt mit unseren Grenzen. Wenn man gewillt ist, sich damit auseinanderzusetzen, kann man sich weiterentwickeln.
Standhaft zu bleiben, fällt oft schwer. Wie bleibt man liebevoll?
Das kommt auf Situation und Alter des Kindes an. Manchmal formuliert man aus Gewohnheit eine Grenze, wo keine sein müsste. Zum Beispiel: "Du sollst nicht in die Lacke springen!" Dabei lieben Kinder das. Ein Anflug von Unlust, Kleidung und Kind danach zu waschen, mündet in das Verbot. Da kann man sich korrigieren und sagen: "Passt schon, spring rein."
Und wenn die matschige Kleidung die Nachmittagsplanung verkompliziert?
Das sind Situationen, wo man standhaft bleiben muss. Wenn man – um bei dem Beispiel zu bleiben – zu einer Hochzeit unterwegs ist, liegt das Nachgeben nicht im Rahmen des Möglichen. Diese Betrachtungsweise ist anspruchsvoll, denn es zeigt sich, dass es keine Schablone fürs Verhalten gibt. Eltern sind immer gefordert, abzuwägen.
Nach wie vor hält sich die Idee, Frauen seien besser für den Umgang mit kindlichen Bedürfnissen geeignet.
Das stimmt schlicht nicht. Bis auf die Tatsache, dass Frauen Kinder auf die Welt bringen und sie stillen können, und der Mann das mit seinem Körper nicht kann, gibt es keinen Unterschied in der elterlichen Begabung. Fürsorge ist nicht an das Geschlecht gebunden. Wenn ein Baby schreit, wird – das wissen wir aus Studien – bei beiden Geschlechtern das Gleiche getriggert: Stresshormone werden ausgeschüttet, der Blutdruck steigt, man hat den Wunsch, das Weinen des Kindes durch Fürsorge zu beenden.
Wenn man den Anspruch hat, respektvoll mit Kindern umzugehen, ist es bitter, wenn das nicht gelingt. Man mal lauter wird oder schimpft.
Das passiert allen Eltern. Wenn sich solche Situationen häufen, sollte man evaluieren, was einen derart in Stress und Not bringt und Dinge verändern. Das bringt mehr, als sich jedes Mal, wenn eine Interaktion gekippt ist, tausendfach beim Kind zu entschuldigen. Wenn so etwas nur hin und wieder passiert, ist es wichtig, Wiedergutmachung anzustreben. Wenn es morgens mal hektisch ist, Eltern unfeinfühlig reagieren und das Kind etwas heftiger aus der Tür ziehen, sollte man dieses Verhalten unterbrechen, sobald man es ins Auto geschafft hat – und sich zugewandt verabschieden. Dann ist die Situation fürs Kind aufgelöst.
Wie erkennt man, dass man zu lange über seine Grenzen gegangen ist?
Wenn man das Gefühl hat, dass die Stimmung in der Familie dauerhaft angespannt ist und sich alles nur noch wie ein Machtkampf anfühlt. Wenn Spannungen in der Paarbeziehung signifikant zunehmen und wenn man bei sich selbst Anzeichen einer mentalen Erschöpfung oder Depression wahrnimmt, ist es ratsam, sich Hilfe zu holen – und sich keinesfalls dafür zu schämen. Auch Wesensveränderungen oder somatische Beschwerden beim Kind – Albträume, Bauchschmerzen oder Gewichtsverlust sollten ärztlich abgeklärt werden – können anzeigen, dass die Familie überlastet ist.
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