Warum sexuelle Aufklärung bereits am Wickeltisch beginnt
"Das da!?", ruft die Eineinhalbjährige. Sie deutet energisch auf den Intimbereich des Papas, der durch das Wasser in der Badewanne schimmert. Ihr Blick ist erwartungsvoll, der des Vaters etwas betreten.
Wenn Kinder Interesse für Geschlechtsorgane – ihre eigenen, aber auch die ihrer Bezugspersonen – entwickeln, löst das in Müttern und Vätern oft unangenehme Gefühle aus. "Eine ganz normale Reaktion", sagt Dianne Dela Cruz.
Die deutsche Sexualpädagogin und -therapeutin weiß: "Wir sehen diese Neugier aus Erwachsenensicht, die schon sexuell geprägt und womöglich mit Unsicherheiten und Tabus belegt ist, mit denen wir selbst groß geworden sind."
Beim Windelwechseln Worte finden
Kleinen Kindern sind schambesetzte Assoziationen fremd. "Sie entdecken sich und ihre Welt ganz unvoreingenommen – da gehört das Genital natürlich dazu", beschreibt die Expertin. Hartnäckig hält sich in vielen Köpfen die Idee eines einmaligen Aufklärungsgesprächs im Teenageralter. "Echte Aufklärung ist keine einmalige Unterhaltung, sondern ein kontinuierlicher Dialog", sagt Dela Cruz. Der Startschuss dafür falle nicht erst, wenn beim Nachwuchs Busen oder Intimbehaarung zu wachsen beginnen. "Er fängt idealerweise an, wenn das Baby beim Windelwechseln zum ersten Mal die Hand auf Penis oder Vulva legt."
In diesen Momenten eröffnen sich kommunikative Chancen: "Ich rate dazu, die Handlungen nicht als etwas Schlechtes oder gar Verbotenes darzustellen, sondern den Augenblick zu nutzen, um über Privatsphäre und Hygiene zu sprechen", sagt Dela Cruz. Sie plädiert dafür, Genitalien korrekt zu benennen. Kosenamen verteufelt sie dennoch nicht. "Noch wichtiger als die korrekte Bezeichnung finde ich, dass sie überhaupt eine Bezeichnung haben, mit der sie sich auch wohlfühlen."
Zentral sei – insbesondere im Sinne der Prävention von sexuellen Übergriffen –, "dass Kinder ein positives Körpergefühl erlernen, und auch, dass ihr Körper ihnen gehört". Denn "nur, was man schätzt, liebt und bennennen kann, kann man schützen und erzählen, wenn etwas Ungewöhnliches passiert", schildert Dela Cruz, die auf Social Media Aufklärung über Aufklärung betreibt. Derzeit tüftelt sie auch an einer Aufklärungs-App für Kinder und Jugendliche.
App
Durch ihre Arbeit in sozialen Medien wurde Dianne Dela Cruz damit konfrontiert, wie groß der Bedarf an verlässlicher, gut kuratierter Information im Bereich Sexualaufklärung ist. Derzeit arbeitet die Expertin an der App "BeeYou". Sie soll Kindern und Jugendlichen einen sicheren, interaktiven Raum bieten, in dem sie alles rund um das Thema Sexualität erfragen können.
Testpersonen
Die Aufklärungs-App befindet sich noch in der Entwicklungsphase. Aktuell werden Testuserinnen und -user gesucht. Weiterführende Infos unter www.beeyou.ai.
Neben Fachwissen besitzt Dela Cruz – sie ist Mutter von fünf Söhnen – reichlich persönliche Erfahrungswerte: "Ich wurde von allen gefragt, warum ich keinen Penis habe." Es sei wichtig, diese Fragen ernst zu nehmen. Eine Gefahr, Kinder zu früh aufzuklären, bestehe nicht. "Sobald Kinder Fragen stellen, haben sie Antworten verdient." Wichtig sei, dass Informationen altersgerecht formuliert und an den Entwicklungsstand des Kindes angepasst sind. "Spätestens zur Einschulung sollten sie wissen, wie Babys entstehen", formuliert Dela Cruz einen Richtwert.
Eltern können eigene Einstellungen zu Sexualität reflektieren
Ob es auch mal vorkomme, dass eine Kinderfrage sie sprachlos mache? "Natürlich, es ist absolut legitim, nicht auf alles eine Antwort zu haben. Ich sage dann 'Das ist ja eine interessante Frage, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Lass uns gemeinsam nach der Antwort suchen'."
Wer sich der Aufklärung seiner Kinder widmet, hat auch als Elternteil die Chance, sein Verhältnis zur Sexualität zu reflektieren. "Es ist eine Gelegenheit, eigene Einstellungen zu überdenken, und wie diese weitergegeben werden." Medien und Peergroups können bei der Sexualaufklärung als Informationsquellen dienlich sein.
Für Dela Cruz bleibt die Rolle der Eltern aber unersetzlich. "Eltern können ein sicheres Umfeld bieten, in dem offen über Sexualität gesprochen wird. Sie können Werte vermitteln und Kindern helfen, kritische Denkfähigkeiten zu entwickeln, um Infos von anderswo zu bewerten."
Kinder kommen, das zeigen Studien, immer früher mit sexuell expliziten Inhalten in Kontakt. Dass Heranwachsende heute mehr über Sexualität wissen als noch vor zwanzig Jahren, sei ein Trugschluss. Dieses Wissen sei nicht immer korrekt oder angemessen, eine fundierte Aufklärung deshalb wichtiger denn je. Man könne es aber auch positiv sehen, sagt Sexualpädagogin Dela Cruz: "Und zu einem weiteren Anlass nehmen, ein gesundes Sexualverständnis zu fördern."
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