"Gender Health Gap" gibt es auch bei Kindern
Wenn geschlechtsspezifische Faktoren beim Erkennen und Behandeln von Erkrankungen außer Acht gelassen werden, spricht man vom "Gender Health Gap". Meist wirkt er sich nachteilig für Frauen aus: Sie erhalten weniger präzise Diagnosen und medizinische Versorgung als Männer.
Seit einigen Jahren rücken diese Defizite ins gesellschaftliche Bewusstsein. So existiert etwa seit 2022 eine EU-Verordnung, die vorschreibt, dass alle Geschlechter in medizinischen Studien berücksichtigt werden müssen. Dafür, dass sich körperliche wie psychische Erkrankungen auch bei Buben und Mädchen anders ausdrücken können, seien Fachleute laut Laminger kaum sensibilisiert.
Das Forschungswissen dazu ist tatsächlich dürftig. "Es wurden bereits viele Studien geschlechtsspezifischer Medizin bei Erwachsenen veröffentlicht, aber es liegen nur sehr wenige Daten über Kinder vor", summierten etwa italienische Forschende 2018 in einer Studie. Die meisten Informationen über geschlechtsspezifische Unterschiede lägen für endokrine (hormonell bedingte, Anm.) und neuropsychiatrische Störungen vor, während Untersuchungen in anderen medizinischen Bereichen rar seien.
Autismus bei Mädchen: "Verhalten wird als typisch weiblich interpretiert"
"Prinzipiell ist es so, dass bei Buben häufiger Verhaltensstörungen, etwa ADHS, diagnostiziert werden, bei Mädchen eher emotionale, beispielsweise Panik-, Angst- oder Essstörungen", sagt die Psychologin. Auch Autismus werde bei Mädchen seltener erkannt, weil sich die Entwicklungsstörung – wie eingangs umrissen – anders äußert. "Mädchen mit Autismus-Spektrum-Störung fallen seltener auf, weil sie anpassungsfähiger sind, ihre Umgebung beobachten, um soziale Normen nachzuahmen, und allgemein sozialer agieren. Spezialinteressen sind oft weniger auffällig." Ihr Verhalten wird zudem als typisch weiblich interpretiert – und weniger beachtet.
Essstörungen bleiben wiederum bei Buben oft unerkannt, weil sie die Gewichtsreduktion eher durch exzessiven Sport, statt restriktives Essen und Erbrechen zu erreichen versuchen. Probleme mit dem Körperbild werden außerdem nach wie vor als "weiblich" wahrgenommen. "Bei Buben werden solche Themen weniger ernstgenommen", weiß Laminger. Eine Studie der American Academy of Pediatrics ergab, dass bei Mädchen die Diagnose einer Essstörung im Schnitt zwei Jahre früher gestellt wird.
Biologie spielt noch untergeordnete Rolle
Auch Alexandra Kautzky-Willer, Gendermedizinerin an der MedUni Wien, sieht Aufholbedarf: "Das Bewusstsein für gendermedizinische Faktoren ist sicher noch geringer als bei Erwachsenen", sagt sie, betont aber auch, dass rein biologische Unterschiede im Kindesalter noch begrenzt seien.
So würden etwa die Sexualhormone, vor allem Östrogen und Testosteron, erst ab der Pubertät eine Rolle spielen. Bekannt ist etwa, dass Östrogen immunfördernd wirkt. Weil sich das aktivere Immunsystem auch gegen sich selbst richten kann, kommen Autoimmunerkrankungen bei Frauen häufiger vor. Von Asthma seien bis zu Pubertät mehr Buben betroffen. "Ab der Pubertät kippt es – wegen der Sexualhormone, wie wir vermuten – in Richtung der Mädchen."
Im Erwachsenenalter senkt Testosteron das Schmerzempfinden, weibliches Östrogen steigert es. Dass Buben seltener und im Schnitt später über Schmerzen berichten, sei laut Kautzky-Willer durch Sozialisation bedingt. "Weil an Buben nach wie vor die Erwartung herangetragen wird, das starke Geschlecht sein zu müssen." Schlimmstenfalls können bestehende Probleme chronisch werden. Besonders paradox: Im Erwachsenenalter sind es die Frauen, die laut Studien nach dem Aufsuchen einer Notaufnahme seltener ein Rezept für Schmerzmittel. Weil angenommen wird, dass sie ihre Zustände übertrieben schildern.
Geschlechtsspezifische Effekte kommen teils schon vor der Geburt zum Tragen. "Wenn die werdende Mutter raucht, haben Buben später ein höheres Risiko für Bluthochdruck. Hat sie Schwangerschaftsdiabetes, steigt das Risiko bei Mädchen für späteres Übergewicht, bei Buben kommt es häufiger zur Entstehung von Diabetes", führt Kautzky-Willer aus. Allgemein gesprochen sei Übergewicht allerdings bei Buben, ebenso wie Typ-1-Diabetes, häufiger.
Negative Folgen für Selbstwert und Gesundheitssystem
Laut Laminger müsse man "in Summe leider davon ausgehen, dass Mädchen wie Buben in Österreich teils zu spät oder nicht adäquat behandelt werden". Untermauert wird das von einer Umfrage der deutschen AXA-Versicherungsgruppe aus dem vergangenen Jahr: Demnach sind über die Hälfte aller befragten Hausärztinnen und Hausärzte unsicher, ob sie aufgrund des Geschlechts möglicherweise schon einmal eine fehlerhafte Diagnose gestellt haben.
Mit potenziell schwerwiegenden Folgen. So würden Mädchen bis zur korrekten Autismus-Diagnose oft eine ganze Liste an Störungsbildern sammeln. Was bleibt, ist ein diffuses Gefühl, dass die Diagnosen nicht passend sind. "Für Eltern, vor allem aber für die Mädchen selbst, beginnt eine Phase des tiefgreifenden Hinterfragens, was sich negativ auf den Selbstwert auswirken kann."
Fehlerhafte Diagnosen seien auch eine Belastung für das Gesundheitssystem. "Viele Familien laufen von Praxis zu Praxis bis endlich die richtige Diagnose gestellt wird." Erst dann können Betroffene mit der Verarbeitung dieser beginnen, bevor schließlich eine passgenaue Therapie beginnt.
Kindern Glauben schenken
"Es ist wichtig, dass der Gender Health Gap bei Mädchen wie auch Jungen nicht ignoriert wird", betont auch Gerald Timmel, Geschäftsführer der Patienten-Ärzte-Matching Plattform DocFinder. Bleiben Krankheiten unentdeckt, könne das langfristige Folgen haben. "Daher ist es entscheidend, bei Auffälligkeiten oder Veränderungen rechtzeitig einen Arzt aufzusuchen."
Auch Laminger hofft, dass das Bewusstsein für Gendermedizin in der Bevölkerung weiterwächst. In Fachkreisen sollten entsprechende Schulungen angeboten werden. Eltern rät Laminger, ihr Kind stets ernst zu nehmen: "Das Allerwichtigste ist, dass man dem Kind glaubt, wenn es etwas belastet."
Infolge sei auch wesentlich, das Kind in seinem Verhalten zu beobachten, um Muster oder Systematiken zu erkennen. "Das kann im Austausch mit Fachpersonen immer hilfreich sein."
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