Einkommen, Vermögen, Bildung oder Aufstiegschancen: nur wenig ist in unserer Gesellschaft gerecht verteilt. Dass zu diesen Punkten auch die Gesundheit gehört, ist vielen jedoch nicht bewusst. Genau an diesem Punkt setzt die Kulturwissenschafterin und Geschlechterforscherin Beatrice Frasl in ihrem soeben erschienenen Buch „Patriarchale Belastungsstörung“ an.
Ein bedrückendes Beispiel: Menschen, die im 20. Wiener Gemeindebezirk, einem traditionellen Arbeiterbezirk, leben, sterben im Schnitt fünf Jahre früher als jene, die im vornehmen ersten Bezirk zu Hause sind. „Die Klassengesellschaft ist stark in unsere Körper eingeschrieben“, stellt Frasl im Gespräch mit dem KURIER fest.
Das gilt umso mehr auch für die mentale Gesundheit. „Wir sprechen über psychische Erkrankungen sehr stark individualisiert, als etwas, das rein aus uns heraus entsteht. Dabei vergessen wir meistens, die politischen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen mitzudenken, an denen Menschen eben auch erkranken. Dass etwa armutsbetroffene Menschen häufiger an Depressionen und Angststörungen leiden, ist zwar wenig überraschend, kommt aber in der Debatte kaum vor.“ Es seien nun einmal nicht alle gleichermaßen von psychischen Erkrankungen betroffen – und Hilfe, nicht für alle gleichermaßen verfügbar. Therapie-Kassenplätze gäbe es zuwenige, sagt Frasl, und sich die Stunden privat zu finanzieren, sei für viele schlicht unleistbar.
Außer Balance
Besonders vulnerabel und überdurchschnittlich betroffen von den Ungleichheiten des Gesundheitssystems sind Frauen. Die Gründe dafür sind zahlreich, strukturell sind sie gegenüber Männern auf vielen Ebenen benachteiligt: „Frauen werden immer noch großflächig diskriminiert, sind stärker von Armut und Armutsgefährdung betroffen, verstärkt Mehrfachbelastung ausgesetzt, werden aber gleichzeitig weniger bezahlt, sind in größerem Ausmaß von sexualisierter Gewalt und Gewalt in Partnerschaften betroffen und strikten Schönheitsnormen ausgesetzt. Man könnte noch eine halbe Stunde Dinge aufzählen, aber all diese Dinge, die patriarchale Verhältnisse ausmachen, haben auch Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Frauen.“
Diese Entwicklung beginnt schon früh, sagt Frasl. Während sich Burschen beim Spielen austoben dürfen, ermuntert man Mädchen eher zu Spielen, die weniger Raum einnehmen. Sieht man sich an, wofür Kinder gelobt werden, sind das bei Buben erbrachte Leistungen und Fähigkeiten, Mädchen hingegen hören eher: „Du bist lieb, du bist nett, du bist hübsch“.
Ungesundes Patriarchat
All das ist nicht nur zum Nachteil der Mädchen und Frauen. Das Patriarchat schadet auch Buben und Männern. „Viele der Bewältigungsstrategien, die Buben angelernt werden, sind nicht hilfreich. Ihnen wird früh kommuniziert: ,Du darfst dir keine Hilfe suchen, du darfst aber auch keine annehmen, wenn sie dir angeboten wird.’ Das führt dazu, dass Männer schon in der klassischen Medizin viel weniger zum Arzt gehen als Frauen.“ Bei psychischen Erkrankungen, die ja allgemein schon stigmatisiert sind, komme das verstärkt zum Tragen. „Das macht es für Männer doppelt so schwierig, sich Hilfe zu holen“, erklärt die Expertin. „Dabei versterben Männer mehr als doppelt so oft am Suizid als Frauen. Das verweist darauf, dass wir bei ihnen einiges übersehen und nicht abfangen, was sich an Depression, Angst und anderen psychischen Leiden hinter dieser großen Zahl verbirgt.“
Umgekehrt wird, so Frasls These, bereits das Frau-Sein an sich in der psychiatrischen Medizin gerne pathologisiert – und zwar seit jeher. Bereits in der Antike wurden widerspenstige und unkontrollierbare Frauen mit der, vermeintlich von der Gebärmutter ausgelösten, Hysterie diagnostiziert. Als deren moderne Nachfolgediagnose gilt feministischen Psychiatriekritikerinnen die Borderline-Persönlichkeitsstörung. In deren Symptombild finden sich etwa Promiskuität, Aggression oder Impulsivität. „Gerade bei dieser Diagnose stellt sich die Frage, inwiefern Verhaltensweisen von Frauen pathologisiert werden, die bei Männern anders bewertet werden“, sagt Frasl. „Es liegt nahe, dass bei Männern ein breiteres Spektrum an zulässigem Verhalten akzeptiert ist als bei Frauen. Man muss hinterfragen, inwiefern sexistische Biases (Voreingenommenheit) dabei eine Rolle spielen.“
Anstoß
Mit ihrem Buch will Beatrice Frasl vor allem eine Diskussion lostreten. Sie formuliert aber auch Forderungen, die das Problem an der Wurzel packen sollen: „Die psychische Gesundheitsversorgung muss viel niederschwelliger werden, dazu gehört ein Ende der Kontigente auf Psychotherapiekassenplätze. Wir leben in einem System, in dem Armut an Krankheit geknüpft ist, daher bin ich klar für das bedingungslose Grundeinkommen. Alles was die ökonomische Ungleichverteilung verhindert, wird letztendlich auch dazu führen, dass Frauen gesünder sind und das Gesundheit allgemein gleicher verteilt ist.“
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