Die Epoche des Radios begann staatstragend auf Welle 530: „Möge das Radio immer nur dem Frieden und der Verständigung zwischen den Völkern dienen, niemals aber den Kämpfen und der Entzweiung“, richtete Bundeskanzler Ignaz Seipel am 1. Oktober 1924 den Hörern der Österreichische Radio-Verkehrs AG, kurz Ravag, aus.
So kann man sich täuschen.
„Die politischen Massenbewegungen der 1920- und 1930er-Jahre – besonders der Faschismus – wären ohne die Tontechnik dieser Zeit nicht denkbar“, sagt der Historiker Stefan Benedik, der für das Haus der Geschichte Österreich (hdgö) eine Ausstellung zu 100 Jahre Radio verantwortet („Es funkt! Österreich zwischen Propaganda und Protest“, ab 31. 1. 2025).
„Mit der Erfindung des Verstärkers wurde es möglich, nicht nur die Botschaft, sondern auch die Emotion, die damit verbunden war, zu übertragen. So war es erstmals möglich, Menschen in der Masse aufzustacheln. Das öffnete der Propaganda Tür und Tor“, analysiert der Historiker. Und weiter:
Das Radio war von Stunde eins an politisch, vielleicht sogar parteipolitisch.
Schon die erste Sendungsstunde war nicht nur mit klassischer Musik auf die gehobene Bürgerschicht zugeschnitten; mehr noch, man spielte nur Richard Wagner, etwa den Kaisermarsch. Eine Zeile daraus: „Heil! Heil dem Kaiser! König Wilhelm!“ Benedik: „Im Radio der Ersten Republik betrieb man also ganz offen deutschnationale – noch dazu antisemitische – Propaganda und das schon beim Senderstart 1924.“
Die Ravag machte das Rennen um die Radiolizenz, weil sie den Christlichsozialen nahe stand. Radio Hekaphon, das bereits seit 1923 mehr oder weniger illegal sendete, hatte ob der Nähe zur Sozialdemokratie das Nachsehen. Man sprach andere Zielgruppen an – die einen setzten auf bürgerliche Schichten, Notare, Richter, Ärzte, die anderen auf Kleinbürger und Arbeiter.
Leitmedium
Rasch wird das Radio zum Leitmedium. Und das, obwohl Radio ein Medium ist, von dem nichts bleibt. „Von den allermeisten Sendungen gibt es keine Aufzeichnungen“, bedauert der Historiker. Die Technik – Schallplatten, Schallfolien und Phonogramme – war anfangs einfach zu teuer. Und so kam es, dass Großereignisse, in denen Radio Geschichte gemacht hat, nicht vorhanden sind, etwa der Juliputsch 1934, als die NS-Propaganda die Fake News vom Abdanken Bundeskanzler Dollfuß’ via Radio verbreitete.
Nur die Manuskripte blieben erhalten. „Das meiste über das Radio wissen wir aus den Programmzeitschriften“, erzählt der Historiker. Aufzeichnungen fehlen übrigens nicht nur in den 1920er- und 1930er-Jahren.
Auch die ersten Tage von Ö3 und Ö1 haben sich versendet.
von Stefan Benedik
Historiker
Gleichzeitig werden viele Töne, die sich im kollektiven Gedächtnis festgesetzt haben, nicht mit dem Radio assoziiert: Nein, der Córdoba-Torjubel „Tor, Tor, Tor, i wear narrisch!“ stammt nicht aus dem TV. Und „Österreich ist frei!“, der berühmte Radio-Satz von Leopold Figl, wurde erst später über die Balkonszene der Austria-Wochenschau gelegt.
Kuriosum am Rande: Dass Hörer über das Programm schimpfen, begann praktisch schon mit dem Sendestart: „Mit dem derzeitigen Programm der Ravag bin ich nicht einverstanden. Es ist mir überhaupt noch kein Radiobesitzer untergekommen, der an diesen ewigen Opernabenden Gefallen gefunden hätte“, meinte Raimund Elster am 18. Oktober 1924 in der Illustrierte Kronen Zeitung. Er war nicht der Einzige.
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