Eine Welt, in der alle genug haben, aber niemand zu viel
Wenn man jemanden sucht, der die Effekte der Menschheit auf den Planeten aus einer besonders ganzheitlichen Perspektive betrachtet, ist man bei Nebojsa Nakicenovic an der richtigen Stelle. Der in Belgrad geborene Forscher wurde an der TU Wien zum Professor für Energieökonomie, leitete zehn Jahre lang das Institut für Angewandte Systemanalyse in Laxenburg und hat Regierungen, Konzerne und internationale Organisationen wie die UNO beraten. Aktuell ist er einer der sieben leitenden wissenschaftlichen Berater der EU-Kommission und setzt sich stark für eine gesellschaftliche Veränderung hin zu mehr Nachhaltigkeit ein.
KURIER: Unser Wirtschaftssystem basiert stark auf Wachstum. Kann es angesichts dessen jemals ein "genug" geben?
Nebojsa Nakicenovic: In Österreich und Westeuropa gibt es genauso wie in den USA einen hohen Wohlstand und einen hohen Konsum. Die Frage ist: Wie viel Konsum braucht man überhaupt? Das Interesse an sauberer Energie und gesunder Ernährung ist immer größer. Da vollzieht sich ein Wandel. Wachstum ist eine Frage der Richtung, nicht der Größe.
In welche Richtung könnte sich das Wachstum denn bewegen?
Heute wird Wachstum mit dem Bruttosozialprodukt gemessen, aber das könnte sich mit der Zeit ändern. Um unsere Ressourcen zu schonen, muss es mehr Kreislaufwirtschaft geben. Und Suffizienz ist notwendig. Das bedeutet: Alle haben genug, aber niemand zu viel. Dazu braucht es neues Verhalten, aber auch Umverteilung. In Europa leiden 10 Prozent der Bevölkerung - rund 50 Millionen Menschen - an Armut. Es ist wichtig, dass man hier ein Wachstum erreicht. Die Wirtschaft sollte also nicht nach jetzigen Messmethoden wachsen.
Suffizienz bedeutet auch, Überkonsum zu vermeiden. Wer ist dazu bereit, auf gewohnten Luxus zu verzichten?
Mir ist klar, dass das nicht von heute auf morgen passieren wird. Wir müssen das sehr langfristig erreichen, sonst wird die Krise immer tiefer. Wir sehen die Klimaveränderung, den Verlust der Biodiversität. Die Entwicklung der Menschheit war in den letzten 50 Jahren absolut explosiv. Alles ist exponentiell gewachsen, aber jede exponentielle Kurve führt zu einer Singularität, das heißt, etwas wird brechen. Transformation ist also unbedingt notwendig. In Europa haben wir uns dafür Ziele gesteckt. Sie geben uns eine langfristige Orientierung, man muss sie nur umsetzen.
Als wichtiges Argument für Suffizienz gelten die "planetaren Grenzen". Die meisten davon sind bereits überschritten. Wie schlimm ist das?
Es gibt viele Bereiche, wo Kipppunkte erreicht werden: Die Korallenriffe sterben, der Permafrost schmilzt, Grünland verschwindet. In den Alpen verschwinden die Gletscher, es gibt mehr Erosion. Kritische Funktionen des Planeten verändern sich irreversibel. Das 1,5-Grad-Ziel werden wir nicht mehr erreichen. Es wurde von allen Staaten der Welt akzeptiert als ein Wert, wo der Schaden noch nicht zu groß ist. Aber wir werden darüber hinaus kommen, weil wir zu wenig getan haben bei der Minderung der Emissionen. Auch das 2-Grad-Ziel ist nicht mehr erreichbar, ohne negative Emissionen, also das Abscheiden von CO2 aus der Atmosphäre.
Währenddessen bauen manche Länder ihre Kohleproduktion aus...
Die Probleme im globalen Süden sind gewaltig groß. 600 bis 700 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu Energie, 2 Milliarden haben keine sanitären Einrichtungen, 800 Millionen Menschen gehen jeden Tag hungrig nach Hause. Sie brauchen mehr Energie und Ressourcen. Wenn wir im globalen Norden, die einen relativ hohen Wohlstand haben, nicht mit einer Transformation anfangen, können wir nicht erwarten, dass der Rest der Welt das tut.
Wer könnte sich mit einer Transformation der Gesellschaft Richtung Suffizienz am ehesten anfreunden?
Die junge nächste Generation praktiziert das schon zum Teil. Viele Studierende in meinen Vorlesungen kommen zu Fuß, mit öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem Fahrrad. Viele sind Vegetarier oder achten auf wenig Fleischkonsum, viele verlassen sich auf "Shared Economy", auf Teilhabe statt Besitz. Ihr Energieverbrauch ist bescheiden. Das einzige, was immer noch hohen Konsum bedeutet, sind Urlaubsreisen. Es stellt sich auch die Frage, was passiert, wenn diese jungen Menschen feste Berufe haben und Familien gründen. Ist ihr Konsum dann immer noch so bescheiden? Ich habe aber Hoffnung.
Wie macht man die Idee eines genügsamen Lebens attraktiver?
Es gibt schon viele Menschen und Unternehmen, die das praktizieren. Es ist wichtig, dass sie anderen die Vorteile dieses Lebensstils zeigen. Wir haben uns an Konsum gewöhnt, es ist schwierig, sich davon zu verabschieden. Drohungen werden das nicht erreichen, es muss freiwillig passieren. Positive Narrative sind unheimlich wichtig. Beschränkung klingt negativ, die Zukunft sieht bedrohlich aus. Aber eine Transformation würde viele Vorteile bringen.
Gibt es Wirtschaftsbereiche, die gar nicht mehr zu dieser Vision passen?
Ja, ich glaube schon. Denken Sie an die Autoindustrie, die sowieso schon kriselt in Europa. Mit einem Auto, das man besitzt, fahrt man im Schnitt nicht mehr als eine Stunde pro Tag. Nachhaltiger ist es, wenn man ein Fahrzeug mietet, hoffentlich ein elektrisches. In unserer digitalisierten Wirtschaft sollte es kein Problem sein, ein Auto zur Verfügung zu haben, wenn man es braucht. Wenn jemand ein Auto besitzt, könnte er es andererseits dem Stromnetz als Speicher zur Verfügung stellen. Das könnte helfen, den Anteil erneuerbarer Energien zu erhöhen. Ich sehe da mehrere Möglichkeiten, die konform mit Suffizienz sind.
Fällt Ihnen noch ein Beispiel ein?
Wir haben der EU-Kommission vorgeschlagen, Maßnahmen zu setzen, die den Fleischkonsum reduzieren, vor allem rotes Fleisch, aber auch ganz allgemein Salz, Zucker und Fett. Das ist eine Systemfrage wie individuelle Mobilität. Supermärkte sollten gesunde Lebensmittel ganz vorne präsentieren. Ungesunde sollten stärker besteuert werden, aber nicht, um Budgetlöcher zu stopfen. Diejenigen, die sich gesunde Lebensmittel nicht leisten können, sollten damit unterstützt werden. Wir müssen die Wirtschaft da mehr regulieren. Europa hat zu viele Regeln, es wäre gut die zu vereinfachen. Aber Steuerung ist notwendig.
Wie sieht es im Energiebereich aus?
Europa ist mit seinen hohen Energiekosten in einer sehr schwierigen Lage. Der Erneuerbaren-Anteil ist groß, aber noch nicht groß genug. Es gibt immer noch Probleme mit dem Stromnetz, mit Stromspeicherung. Wasserstoff könnte eine Lösung sein, aber wir sind da erst am Anfang. Ehrlich gesagt halte ich es für ein großes Unglück, dass wir uns nicht mehr auf billiges Gas verlassen können. Das wäre eine Brücke gewesen zu null Emissionen. Flüssiggas ist eine Notlösung, aber es ist nicht so nachhaltig wie Pipeline-Gas, weil alleine die Umwandlung 20 Prozent Energieverlust bedeutet. Dass manche Länder nun Kohle statt Gas in Betracht ziehen, ist ein riesiger Schritt zurück.
Wie geht man mit der großen Zahl an Menschen um, die keine Veränderung wollen?
Es wird immer mehr Menschen geben, die in einem nachhaltigen Leben große Vorteile sehen und ihr Verhalten anpassen. Das ist ein Diffusionsprozess. Ich habe solche Prozesse bei neuen Technologien über Jahrzehnte analysiert. Eine der Schlussfolgerungen ist: Es ist nicht notwendig, dass eine Mehrheit das macht. Es müssen sich nicht alle einig sein, dass das der Weg vorwärts ist. Es braucht nur eine kritische Minderheit, eine Gruppe von Innovatoren.
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