Inflation steigt, aber: "Zweistellig werden wir sicher nicht"
Im KURIER-Gespräch analysiert die Expertin, was ein Gas-Lieferstopp Russlands wirtschaftlich bedeuten würde, warum ein Ende der kalten Progression Besserverdiener bevorzugt und weshalb ein schwacher Euro nicht nur schlecht ist.
KURIER: Die Frühjahrsprognose der EU-Kommission fällt für Österreich mit einem Wachstum von 3,9 Prozent sehr positiv aus, es gab auch schon wesentlich pessimistischere Einschätzungen, etwa vom Währungsfonds. Wie erklären Sie sich den Optimismus in Brüssel?
Birgit Niessner: Wir sehen das ähnlich wie die Kommission, arbeiten aber gerade an unserer Prognose. Bei unserem Interims-Update im März gingen wir von einem BIP-Wachstum um 3,5 Prozent aus und wir werden jetzt ganz sicher nicht abwärts revidieren müssen. Die Erklärung dafür liegt in einem extrem guten ersten Quartal.
Also in den Nachholeffekten aus der Pandemiezeit?
Ja, wir haben eine wirklich super Wachstumsperformance hingelegt – etwa im Tourismus oder auch in der Industrie. Und wenn ich von diesem extrem hohen Sockel des ersten Quartals ausgehe, ist es gewissermaßen über das Jahr gesehen schon fast unmöglich unter die 3,5 Prozent Wachstum zu kommen.
Ist da ein mögliches Gas-Embargo schon mitberücksichtigt?
Aus Wachstumssicht ist der große Gamechanger, ob Gas fließt oder nicht. Keine Frage. Dann kommt es zu einem Schock in der österreichischen Industrie. Falls der Gashahn zugedreht wird, ist man dann auch sehr schnell in einer Stagnation. Unsere Berechnung zeigt, ein Gas-Lieferstopp kostet einen Abschlag von 3,1 Prozent vom BIP-Wachstum. Das wäre die Stagnation, aber auch noch keine Rezession, wenn man die Wachstumsrate für das Gesamtjahr 2022 als Kriterium heranzieht.
Wie geht es aus Ihrer Sicht nach 2022 weiter?
Wir sehen heuer wie gesagt noch ein relativ starkes Wachstum, nachdem es in der Pandemie auch sehr stark nach unten gegangen ist. Das ist aber ein völlig untypischer Konjunkturverlauf. Wenn wir für 2023 und die Jahre danach ein schwächeres Wachstum erwarten, ist das nichts anderes als die Rückkehr zu früheren normalen Wachstumsraten von vielleicht zwei Prozent.
Die möglichen Kriegsfolgen wiegen nicht schwerer? Es bleibt alles beim Alten?
Die Verflechtung mit Russland ist nicht so stark, dass wir unser Wachstumsmodell völlig neu aufstellen müssen. Der große Risikofaktor ist wie gesagt ein möglicher Gas-Lieferstopp.
Und deshalb droht eine Phase der Stagflation, also hohe Inflation ohne rechtes Wachstum, gepaart mit hoher Arbeitslosigkeit ...
Für uns Ökonomen ist entscheidend, ob so eine Stagflation über einen längeren Zeitraum anhält. Die Frage ist also, kommt es zum Gasstopp und bleibt es für zwei, drei Jahre dabei, dass russisches Gas nicht substituiert werden kann. Wenn wir rein auf die Inflation schauen, zeigt sich anhand der Futures, dass wir beim Gas und Öl schon wieder niedrigere Werte gegen Ende des Jahres sehen. Das Risiko besteht also, aber es ist weder vom Wachstum, noch von der Inflation her ausgemachte Sache, dass es zu einer längeren Stagflationsphase kommt.
Wie besorgt sind Sie über den schwachen Euro?
Wir beobachten den schwachen Euro, weil er ja aufgrund der in Dollar quotierten Rohstoffe importierte Inflation bedeuten kann. Das kann uns treffen. Aber: Der Großteil unseres Handels läuft innerhalb der Eurozone und damit in Euro ab. Da trifft uns der aktuell schwächere Kurs nicht. Außerdem hilft ein schwächerer Euro den Exporten, was für Österreich ein klarer Vorteil ist.
Wie schlimm kann eigentlich die Inflation noch werden? Werden wir zweistellige Raten sehen?
Zur Jahresmitte sollte der Höhepunkt der Inflation erreicht sein. Gegen Ende des Jahres erwarten wir etwas niedrigere Energiepreise aufgrund einer nachlassenden Nachfrage in der Eurozone, aber etwa auch in China. In unserer letzten Schätzung haben wie eine Inflationsrate von 5,6 Prozent für heuer erwartet, das hat ein klares Aufwärtsrisiko. Mit einem Gas-Stopp haben wir bis zu neun Prozent prognostiziert, aber das würde ich mittlerweile als absolute Obergrenze ansehen. Zweistellig werden wir also sicher nicht. Das geben auch die internationalen Zahlen nicht her, die EZB erwartet für den Euroraum sechs Prozent für 2022.
Die EZB muss einen Drahtseilakt vollführen, indem sie die Zinsen anhebt, ohne die Konjunktur abzuwürgen. Wie geht das?
Möglichst flexibel und in kleinen Schritten, nachdem die Anleihenkäufe ausgelaufen sind. Das wird kein großer „Rate Hike“, also Sprung im Leitzins werden, sondern ein schrittweises Vorgehen.
Sehen sie die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale?
Jetzt noch nicht, aber bei der kommenden Herbstlohnrunde wird es spannend zu sehen sein, wie stark die Inflation wirklich kompensiert wird. Wenn es einen temporären angebotsseitigen Energiepreisschock gibt, ist es aus Notenbanksicht gut, wenn temporär gegengesteuert wird. Das kann natürlich auch über staatliche Transfers an einkommensschwache Haushalte sein. Während eine Lohnerhöhung für immer da ist und sich in der aktuellen Situation an der Inflation gemessen am BIP-Indikator oder der Kerninflation der vorangegangenen zwölf Monate und am Produktivitätszuwachs der Branche orientieren sollte. Das werden bestimmt schwierige Verhandlungen. Also, ja, wir sehen das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale und wir schauen deshalb ganz genau hin.
Finanzminister Brunner verspricht die Abschaffung der kalten Progression. Glauben Sie, dass wir das noch erleben?
Das ist eine rein politische Entscheidung, aus Notenbanksicht gibt es da kein richtig oder falsch. Aber bisher hat die österreichische Fiskalpolitik die kalte Progression auch ohne einen Automatismus in regelmäßigen Abständen über Steuerreformen relativ verlässlich abgegolten. Die Politik kann so Schwerpunkte setzen, sie kann aktiver gestalten und auch Umverteilungsschritte für einkommensschwächere Haushalte setzen. Das Ende der kalten Progression würde Besserverdiener bevorzugen.
Abschlussfrage: Sie waren die Länder-Risiko-Chefin der Raiffeisen Bank International. Wie hoch ist das Russland-Risiko der RBI tatsächlich?
Das steht mir nicht zu, zu kommentieren. RBI-Chef Johann Strobl hat das mehrmals ausführlich beantwortet. Nur soviel: Auch ein unwahrscheinlicher Totalausfall des Russland-Geschäftes wäre keine existenzielle Bedrohung für die RBI.
Zur Person
Birgit Niessner (51) leitet seit Oktober des Vorjahres die Hauptabteilung Volkswirtschaft in der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB). Sie folgte in dieser Position Doris Ritzberger-Grünwald nach, die in Pension ging.
In den Jahren davor hatte Niessner verschiedene Positionen im Risk Management der Erste Group und Raiffeisen Bank International (RBI) inne. Zuletzt war sie Länder-Risiko-Chefin der RBI.
Die in Wien und London ausgebildete Ökonomin hat zwei Kinder und gibt „Reisen, Berge und Bücher“ als Hobbys an.
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