Europa und die Inflation: Die Suche nach der goldenen Mitte
In Argentinien erzählt man sich gerne einen alten Witz: Ein Mann sieht im Schaufenster eine Lampe für zehn Pesos. Als er im Geschäft nachfragt, kostet sie zwölf. Schnell eilt er zur Kassa, bezahlt 14. Beim Rausgehen freut er sich über seinen Deal. Denn da kostet die Lampe bereits 20 Pesos.
Der Witz stammt angeblich aus den 1980er-Jahren. Aktuell ist er immer noch.
In vielen Teilen der Welt ist das Leben mit Inflation, kurzfristigen Preisänderungen und massivem Geldverfall längst zur Normalität geworden – etwa in Venezuela oder Argentinien. Schattenwährungen und Schwarzmärkte, Hamsterkäufe und Schlangen vor den Tankstellen sind seit Jahrzehnten Alltag. Währenddessen überspringt die Inflationsrate in Teilen Europas die Zehn-Prozent-Hürde. Regierungschefs zucken zusammen und rufen die EZB zu Hilfe. Die lässt sich mit eingreifenden Maßnahmen Zeit, lässt zuerst die Nationalstaaten mit Preisdeckelungen und Subventionen spielen.
Der KURIER hat sich 12 Länder – von Venezuela über Ägypten bis nach Russland – angeschaut und das Leben der Bevölkerung mit der Inflation aufgezeichnet. Mehr dazu lesen Sie hier:
Die Inflation hat die Welt gerade fest im Griff. Und das nicht erst seit Russlands Krieg in der Ukraine, Energie-Embargos und Sanktionen. Schon davor war die Weltwirtschaft angeknackst.
Widersacher Corona
Seinen Anfang nahm der Preisanstieg, den wir jetzt erleben, nämlich schon vor zwei Jahren: Als das Coronavirus die globale Weltwirtschaft lahmlegte. Die Folge waren wirtschaftspolitische Maßnahmen, die im Zuge der Pandemie von verschiedenen Ländern getroffen wurden, wie Kurzarbeit, Hilfen für Unternehmen und Selbstständige.
Gleichzeitig hat sich die Nachfrage nach Konsumgütern verändert: Anstatt ins Restaurant oder zum Friseur zu gehen, wurden Homeoffice und Garten verschönert. "Damit haben wir schon im Frühjahr 2021 zehn Prozent mehr Güter produziert. Und das kostet mehr Rohstoffe", erklärt Wifo-Ökonom Josef Baumgartner.
Auf diese Pandemie-Entwicklung trifft jetzt die Energieknappheit, bedingt durch den Krieg in der Ukraine: "Russland ist weltweit der wichtigste Gas-Exporteur, der zweitwichtigste Öl-Exporteur und der drittwichtigste Kohle-Exporteur. Für diese Güter ist Europa der wichtigste Abnehmer."
Für 2022 erwarten Finanzinstitute deswegen eine weltweite Durchschnittsrate von 7,7 Prozent. Das sind fünf Prozentpunkte mehr als der von der Weltbank ausgewiesene Wert im vergangenen Jahrzehnt. Eigentlich sagt so ein globaler Durchschnittswert wenig aus über die Inflationsentwicklung eines einzelnen Landes, erklärt Baumgartner. Was der Wert aber zeige: Welchen massiven Anteil Konsumnachfrage und Ressourcenknappheit im globalen Norden auf die Preisentwicklung in der gesamten Welt haben.
Verteufeln darf man Inflation aber trotzdem nicht, mahnt das Lehrbuch: Ein bisschen Inflation braucht es, um die Wirtschaft aufrecht zu erhalten.
Inflation – nur böse?
Vasily Astrov vom Wiener Institut für Wirtschaftsvergleiche (wiiw) sagt: "Eine geringe Inflation ist wichtig: Würden die Preise stetig sinken, dann würden die Menschen ihren Konsum einschränken und darauf spekulieren, dass die Waren morgen oder übermorgen vielleicht noch billiger sind."
Länder des globalen Südens haben oft zweistellige Inflationsraten, und leben damit gut
Wie viel Inflation gut und wie viel zu viel ist, lässt sich aber nicht pauschal beantworten. "Es kommt darauf an, in welchem Land man sich befindet. Schwellenländer und Länder des globalen Südens haben oftmals zweistellige Inflationsraten, und damit lässt es sich gut leben", so der Ökonom zum KURIER.
Gesucht ist der goldene Mittelweg, der den Konsumenten zum Kauf verführt. Im Euro-Raum war diese goldene Mitte bis dato die Zwei-Prozent-Marke. Manche Ökonomen glauben, dieses Ziel müsse die EZB vielleicht langfristig revidieren. Baumgartner sieht das anders: "Die EZB kann das Zwei-Prozent-Ziel schon beibehalten, erreichen werden wir es in den nächsten Jahren wohl eher nicht."
Offen bleibt die Frage: Wie gehen Regierungen mit der Inflation um?
Balanceakt
Ein Blick in die Vergangenheit: In den 1970er-Jahren hatte der Ölpreisschock Österreich fest im Griff: Teurer werdende Energie führte zu höheren Produktionskosten; das schlug sich in den Verbraucherpreisen nieder. Gleichzeitig kam es zu höheren Löhnen, die wiederum die Produktionskosten befeuerten. Die Folge: die berüchtigte Lohn-Preis-Spirale. Eine solche sei aber derzeit noch nicht zu beobachten, meint Astrov. Grundsätzlich befolgen EZB und Nationalstaaten bis heute eine Strategie bei hoher Inflation: höhere Zinsen und weniger Staatsausgaben. Die Bevölkerung soll so dann wieder zum Sparen animiert werden.
Und wie steht es mit Steuersenkungen? Baumgartner sieht eine Senkung der Mehrwert- oder Mineralölsteuer sehr kritisch. Die Bürger würden damit zwar schnell entlastet, Steuern hätten aber auch eine Lenkungswirkung: Wird Energie billiger, wird damit weniger sparsam umgegangen. Bei drohender Energieknappheit sei das alles andere als sinnvoll. Er plädiert dafür, die Haushalte mit niedrigen Einkommen zu unterstützen: Sie würden die Mehrbelastung aus höheren Energiekosten und Nahrungsmittelpreise am stärksten spüren.
Es scheint Balanceakt zu sein, den goldenen Mittelweg zu finden. Ein Balanceakt, den Europa erst wieder lernen muss.
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