Wie die Weltbevölkerung mit der Inflation lebt
In vielen Teilen der Welt ist das Leben mit Inflation, kurzfristigen Preisänderungen und massivem Geldverfall längst zur Normalität geworden – etwa in Venezuela oder Argentinien. Schattenwährungen und Schwarzmärkte, Hamsterkäufe und Schlangen vor den Tankstellen sind seit Jahrzehnten Alltag. Währenddessen überspringt die Inflationsrate in Teilen Europas die Zehn-Prozent-Hürde. Regierungschefs zucken zusammen und rufen die EZB zur Hilfe. Die lässt sich mit eingreifenden Maßnahmen Zeit, lässt zuerst die Nationalstaaten mit Preisdeckelungen und Subventionen spielen.
Die Inflation hat die Welt gerade fest im Griff. Und das nicht erst seit Russlands Krieg in der Ukraine, Energie-Embargos und Sanktionen. Schon davor war die Weltwirtschaft angeknackst. Der KURIER hat sich angeschaut, wie die Weltbevölkerung von Venezuela über Ägypten bis nach Russland das Leben mit Inflation meistert.
Inflation: 9,1 Prozent
Mindestlohn pro Stunde: 6,13 €
Brotpreis: 2,60 €
Benzin um rund 1,50 Dollar pro Liter: Was die meisten Europäer als Okkasion verbuchen würden, sorgt in den USA seit Wochen für helle Empörung. Doch nicht nur die Spritpreise treiben die aktuelle Inflation an, sondern auch die Preise von Lebensmitteln. So sind vor allem Frischwaren wie Gemüse und Fleisch um rund zehn Prozent teurer als zu Jahresbeginn. Am stärksten gestiegen, so beklagen es vor allem die regierungskritischen konservativen TV-Sender wie Fox News unaufhörlich, ist übrigens der geliebte Frühstücksspeck.
Inflation: 167,0 Prozent
Mindestlohn pro Stunde: 0,01 €
Brotpreis: 1,90 €
167 Prozent Inflation sind in Venezuela ein Grund zum Aufatmen. Schließlich hat das Land in den letzten Jahren Preissteigerungen in der Höhe von mehreren tausend Prozent erlebt. Bolívar-Scheine liegen dort teilweise auf den Straßen, werden behandelt wie Müll. Millionen Menschen haben dem Land den Rücken gekehrt. Die Abkoppelung von russischer Energie im Westen könnte das ändern: Die Welt braucht Öl, und Venezuela hat Öl. Angeblich überlegt sogar die USA, wieder Kontakt zum sanktionierten Feind Maduro aufzunehmen. Die Schweizer Credit Suisse Bank prognostiziert mittlerweile ein Wirtschaftswachstum von 20 Prozent für Venezuela in diesem Jahr.
Inflation: 60,7 Prozent
Mindestlohn pro Stunde: 1,42 €
Brotpreis: 1,62-2 €
Argentinien kann über die Inflationsrate im globalen Norden zu lächeln: Teuerungen gehören zum Alltag. Die kleinsten Preisänderungen führen zu Schlangen vor Tankstellen und Hamsterkäufen im Supermarkt. Nichts wird gespart. Wer kann, investiert am Schwarzmarkt zu irren Wechselkursen in andere Währungen oder kauft langlebige Konsumgüter wie Autos. Schuld an der Inflation sind Staatsschulden und der inflationäre Druck von Geld. Ändern wird sich das wohl noch lange nicht: Denn Argentinien subventioniert neben Lebensmitteln und Energie sogar Flugtickets und Urlaubsreisen innerhalb des Landes. Und das lässt den Schuldenberg wachsen.
Inflation: 11,9 Prozent
Mindestlohn pro Stunde: 0,86 €
Brotpreis: 2,20-4 €
Das Wirtschaftswachstum steht in Brasilien seit zehn Jahren still. Die Löhne sind gesunken, die Inflation ging nach oben. Im Vorjahr hat die Zentralbank begonnen, den Leitzins zu erhöhen. Mit 13,25 Prozent ist das Land aktuell Weltmeister und zieht internationales Finanzkapital an. Nutzlos für die Bevölkerung: Etwa 30 Millionen Menschen kämpfen mit Hunger. Die Regierung unter Bolsonaro weiß, dass die Armut die Wahlchancen für Ex-Präsident Lula im Oktober deutlich erhöht. Bolsonaros verbündete Parlamentsparteien wollen jetzt ein Notfallgesetz verabschieden, das bis kurz nach der Wahl monatliche Auszahlungen an Bedürftige ermöglicht.
Inflation: 6,5 Prozent
Mindestlohn pro Stunde: 1,22 €
Brotpreis: 1,35 €
Hohe Rohstoffpreise haben auch etwas Gutes - nämlich dann, wenn ein Land auf den Export von Rohstoffen angewiesen ist. 40 Prozent des weltweiten Goldvorkommens und 90 Prozent des Platins kommen von hier. Die Inflation liegt im Normalbereich, die globale Weizenknappheit merkt man hier kaum. Hauptnahrungsmittel ist Maismehl. Nur der teure Spritpreis ärgert die Autofahrernation. Von dem Krieg in der Ukraine und der “Verteidigung der europäischen Werte” halten die Medien auf der südlichen Weltkugel übrigens wenig. Die überwiegende Meinung: Weg mit den Sanktionen, sie schaden dem Rest der Welt. Es brauche Verhandlungen und ein Ende des Krieges.
Inflation: 14,7 Prozent
Mindestlohn pro Stunde: 0,87 €
Brotpreis: 0,03 €
Derzeit ist es ruhig auf den Straßen Kairos, das Land feiert das Opferfest (Großes Bairam Fest). Von einer Lebensmittelknappheit ist aktuell nicht mehr zu spüren als sonst: Die Regierung subventioniert traditionell den Brotpreis und hat Weizenreserven für die nächsten sechs Monate gebunkert. Das sichert das Überleben von zwei Drittel der Bevölkerung. In Ägypten sagt man „Aisch“ zu Brot, das bedeutet wörtlich übersetzt „Leben”. Die Regierung weiß: Steigt der Brotpreis, steigt das Potenzial sozialer Unruhen wie etwa beim Arabischen Frühling. Und das will man unbedingt verhindern.
Inflation: 7,01 Prozent
Mindestlohn pro Stunde: 0,35 €
1 Kilo Reis: 0,46 €
Die sieben Prozent Inflation sind der höchste Stand seit etwa zwei Jahren. Grund dafür sind die hohen Preise für Öl und Lebensmittel. Weizen, Tomaten, Kartoffeln und anderes Gemüse – Hauptzutaten in der indischen Küche – sind besonders teurer geworden. Die Regierung nimmt sich mitunter die Steuern vor und hat etwa jene auf Kraftstoffe gesenkt. “Noch gibt es in Indien keine Proteste wegen der Inflation, obwohl die Zahl der täglichen Raubüberfälle und Betrugsfälle gefühlt exponentiell gestiegen ist”, erzählt Nikhil J. aus Neu-Delhi. Dennoch ist die Inflation in seinen Augen nicht das Hauptthema in den Nachrichten.
Inflation: 2,5 Prozent
Mindestlohn pro Stunde: 1,80 €
1 Kilo Reis: 1,80 €
In der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt liegt die Inflation in einem verträglichen Bereich. Das sagt zumindest das staatliche Statistikamt. Von außen kann man nur spekulieren, ob diese Daten stimmen oder geschönt sind. Brot ist in China ein Luxusgut, Reis ist das Grundnahrungsmittel. Im Land sorgt sich die Bevölkerung um das Wirtschaftswachstum, das durch die zahlreichen Lockdowns der Zero-Covid-Strategie gebremst wird. Trotz immer mehr Kritik - auch aus den eigenen Reihen - hält Xi Jinping weiter daran fest.
Inflation: 15,9 Prozent
Mindestlohn pro Stunde: 0,92 €
Brotpreis: 2,70 €
Ein Kilo Brot um 2,70, ein Kilo Zucker um zwei Euro bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von 680 Euro: Russland ärmere Bevölkerung spürt die Teuerung massiv. Die Preise für Gemüse sind etwa seit Kriegsbeginn um bis zu 70 Prozent gestiegen, die gefühlte Inflation liegt bei 25 Prozent. Dennoch zucken die meisten Russen mit den Schultern: Viele erinnern sich an die Hyperinflation in den 1990ern, 245 Prozent betrug die Geldentwertung damals. Die Antwort der Menschen gestern wie heute: Rückzug ins Private, eigener Gemüseanbau - und viel tauschen.
Inflation: 78,6 Prozent
Mindestlohn pro Stunde: 2,44 €
Brotpreis: 1,14 €
“Die Preisschilder in den Supermärkten ändern sich fast täglich“, erzählt Gizem M. aus Istanbul. Die Preise haben sich verdreifacht, berichtet sie dem KURIER. Tatsächlich kostete ein Kilogramm Brot vor einem Jahr noch umgerechnet 0,46 Euro, aktuell sind es 1,14 Euro – und das trotz staatlicher Subventionen auf den Mehlpreis. Gizem M. ist davon überzeugt, dass die tatsächliche Inflation weit über 150 Prozent liege. Berechnungen von regierungsunabhängigen Stellen sehen das ähnlich. Was Gizem M. an Bargeld übrig bleibt, investiert sie in ausländische Währungen oder Gold.
Inflation: 9,7 Prozent
Mindestlohn pro Stunde: 10,37 €
Brotpreis: 1,50 €
Die "Cost of living crisis" hält die Insel in Atem. Lieferengpässe gepaart mit Konsumschüben haben schon im Vorjahr die Preise nach oben katapultiert. Heuer wird mit einer Teuerung von 6,7 Prozent gerechnet, manche befürchten sogar über zehn Prozent. Jason B. liefert Mehl an viele Lebensmittelhersteller und befürchtet: "Wir hatten den Brexit, Covid, die globale Erwärmung und jetzt einen Krieg. Die Lieferanten kündigen Verträge mit sofortiger Wirkung und erhöhen die Preise erheblich. Die Situation war schon vor dem Krieg nicht gut, und jetzt ist sie noch schlimmer."
Inflation: 8,6 Prozent
Mindestlohn pro Stunde: 5,93 €
Brotpreis: 1,60-5 €
Normalerweise strebt die EZB eine Inflationsrate von zwei Prozent an. Der heurige Ausreißer ist überwiegend auf den Krieg in der Ukraine und die Sanktionen zurückzuführen. Am meisten leiden die baltischen Länder mit bis zu 17 Prozent Inflation. Während die EZB mit dem Anheben des Leitzinses noch wartet und mit ihrem “Laissez-faire”-Stil den Zorn einiger Nationalstaaten auf sich zieht, gibt es in Ungarn, Bulgarien, Spanien und Portugal mittlerweile Preisdeckelungen für Sprit und Lebensmittel. Von den unruhigen Zeiten profitiert übrigens das Nicht-EU-Land Schweiz: Der Schweizer Franken gewinnt als Fluchtwährung, die Inflation liegt bei gemächlichen 3,4 Prozent.
Kommentare