„Auch findet man Sachen wie Mehl oder Zucker nur noch schwer, weil viele gewisse Lebensmittel bunkern“, beklagt Güler A. die Situation. Die pensionierte Lehrerin lebt in einer kleinen Stadt der Provinz Balikesir im Westen des Landes. Mit ihrem Gehalt kommt sie kaum noch aus, obwohl sie alleine und in einer Eigentumswohnung lebt. Den Großteil ihrer Pension, die sie pro Quartal ausbezahlt bekommt, wechselt sie aus Angst vor weiteren Wertverlusten der türkischen Währung meist in Euro, Dollar oder auch Gold um.
Keine Mittelschicht mehr
Über die Frage, ob er das auch macht, kann Mehmet T. nur lachen. „Welches Geld sollte ich denn wechseln können“, so der 32-Jährige, der in Istanbul als Essenslieferant arbeitet. Mittlerweile muss er 12 bis 14 Stunden täglich arbeiten, um annähernd seinen Lebensunterhalt sichern zu können. „Und trotzdem muss ich mich verschulden. Viele Menschen leben von der Kreditkarte. So etwas wie eine Mittelschicht gibt es in der Türkei nicht mehr. Sondern nur noch Arme und Reiche“, so Mehmet T. bitter.
Ähnliches erzählt auch eine Krankenschwester, die in der Stadt Konya lebt und anonym bleiben möchte. Mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern hatte sie zuvor noch ein relativ unbeschwertes Leben. „Ich arbeite seit 20 Jahren. Mein Mann verdient eigentlich auch gut. Wir wohnen in einer Eigentumswohnung. Aber mittlerweile müssen wir trotzdem sehr auf das Geld schauen“, erzählt sie. Der jährliche Urlaub sei Geschichte geworden. Nachhilfestunden und Betreuung für die zwei Kinder unleistbar. Und beim Supermarktbesuch kauft die Familie auch nur mehr das billigste ein. Denn während die Inflation immer weiter steigt, tun es die Gehälter nicht. Oder nicht annähend so stark.
Nach der zweiten Erhöhung in diesem Jahr beträgt der Mindestlohn in der Türkei 5.500 türkische Lira (circa 316 Euro). Laut türkischer Industriegewerkschaft liegt die Armutsgrenze aber mittlerweile bei fast 20.000 Lira. Die Schuld für diese Situation geben alle, mit denen der KURIER in diesen Tagen spricht, der Politik.
Regierung muss weg
Tatsächlich verfolgt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit seiner Auffassung, hohe Zinsen würden für eine hohe Inflation sorgen, einen höchst fragwürdigen Kurs, der der gängigen Wirtschaftslehre widerspricht. Von der türkischen Zentralnotenbank wird die Niedrigzinspolitik dennoch mitgetragen.
Bei der Frage, was passieren müsste, damit sich die Situation bessere, sind sich auch alle einig: Die Regierung müsse sich ändern und Erdoğan gehen. Für viele sind die anstehenden Präsidentschaftswahlen im Sommer 2023 ein kleiner Hoffnungsschimmer. Erdoğan und die AKP, die sich seit Monaten bei Umfragen auf einem Sinkflug befinden, können sich nicht mehr halten, finden sie. „Aber ich glaube nicht, dass es zu den Wahlen überhaupt kommen wird. Erdoğan weiß, dass er nicht gewinnen kann. Er wird sicher alles tun, um noch an der Macht zu bleiben“, sagt Mehmet T. überzeugt. Wie er das machen könnte, möchte sich der Istanbuler lieber nicht ausmalen.
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