Erdoğans Reich verarmt
Er kaufte russische Flugabwehrsysteme, zog mit Wladimir Putin neue Waffenstillstandslinien in Syrien – wohlgemerkt als Konkurrenten. Seine Truppen drangen erst im Mai tief in irakisches Staatsgebiet ein, seit bald sechs Jahren hält er Teile Syriens völkerrechtswidrig besetzt – und am Parkett der Weltpolitik hofieren ihn die ganz Großen.
Recep Tayyip Erdoğan, Präsident der zweitstärksten NATO-Armee, hat in den vergangenen Jahren den türkischen Einfluss in der Regionalpolitik im Nahen und Mittleren Osten massiv verstärkt: Durch Kriege, Söldnereinsätze und die gefürchteten Bayraktar-Drohnen. Die USA mussten einen hohen Preis für seine Zustimmung zahlen, Schweden und Finnland in den Kreis der NATO aufzunehmen, verzichteten einmal mehr auf die Unterstützung der Kurden.
Es brodelt
Auf geopolitischer Ebene scheint es für Erdoğan und die Türkei derzeit nicht besser laufen zu können. Doch der Schein trügt. Denn innerhalb der Türkei brodelt es. Die „diplomatischen Siege“, wie sie türkische Medien bejubeln, sind – zynisch ausgedrückt – eine willkommene Abwechslung zur sonstigen Nachrichtenlage des Landes. Sogar Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine ließ zumindest die eigene, desaströse Lage vergessen. Ein Land, auf der anderen Seite des Schwarzen Meeres, das noch größere Probleme hat als man selbst – das versuchte auch Erdoğan immer wieder für sich zu nutzen: „Die Situation in europäischen Ländern ist schlimmer als bei uns“, sagte etwa der Präsident bei einer Versammlung seiner Regierungspartei AKP Ende April.
Der „Rote Apfel“
Damals sah er die kritische Phase der Türkei bereits überstanden. „Wir haben und werden keinen Schritt von der Entscheidung zurücktreten, die Türkei zu einer der zehn größten Volkswirtschaften der Welt zu machen“, verkündete Erdoğan. Dieses Ziel sei der neue „Rote Apfel“. Dieser ist seit jeher ein Symbol für das Ziel imperialer Herrschaft der türkischen Nation.
Drei Rollen
Für das Osmanische Reich war der „Rote Apfel“ zunächst die Eroberung von Konstantinopel (Istanbul) und Budapest, später Wien. Dass Erdoğan diesen Begriff verwendet, zeigt einmal mehr die Art und Weise, wie er zu seiner Bevölkerung durchdringen will: Galt er Anfang der Nullerjahre vorrangig als wirtschaftlicher Reformer, so hüllte er sich später in das Gewand des religiösen Politikers, des „Hüters des Islam“, ehe er den osmanischen Imperialismus für sich entdeckte.
Von Libyen bis zum Irak sind reguläre wie irreguläre Truppen im Auftrag Ankaras im Einsatz. Einen guten Teil seiner Kräfte machen syrische Söldner aus, die für 800 bis 1000 Euro im Monat für die Vorhaben Erdoğans kämpfen – und das durchaus mit Erfolg. Dank ihnen und dem Einsatz der Bayraktar-Drohnen – die Türkei ist auf diesem Gebiet im Begriff, eine Weltmacht zu werden – konnte Erdoğan mit relativ geringem Aufwand in Libyen seine politischen Interessen durchsetzen und die EU in puncto Flüchtlingsbewegungen unter Druck setzen.
Im Bergkarabach-Konflikt gewannen die Truppen Aserbaidschans dank türkischer Hilfe bald die Oberhand. Doch die schlechte Wirtschaft holt Erdoğan ein: Die Inflation lag zum Zeitpunkt seiner „Apfel-Rede“ noch bei rund 60 Prozent. Aktuell sind es mehr als 70.
Verarmung
Regierungsunabhängige Quellen schätzen sie sogar noch höher. Vor allem bei Lebensmittel- und Energiepreisen schlägt sich diese Entwicklung – hauptsächlich verschuldet durch Erdoğans unkonventionelle Leitzinspolitik – nieder. Man kann beinahe live mitansehen, wie die Kaufkraft in der Türkei schwindet und die Bevölkerung verarmt.
Bei 20.000 Türkischen Lira lag zuletzt die Armutsgrenze. Der Mindestlohn liegt, trotz mehrerer Erhöhungen, derzeit bei 4.253 Lira. Streiks und Proteste sind mittlerweile Alltag in der Türkei geworden. Die Wirtschaftskrise wirkt wie ein Katalysator zu den bereits vorhandenen Problemen: Von Einschränkungen bei Meinungs- und Pressefreiheit durch immer restriktivere Gesetzte bis hin zum fortschreitenden Abbau von Frauen- und Menschenrechten.
Doch die Wirtschaftskrise bekommt jeder einzelne zu spüren. Am meisten die einkommensschwachen Schichten – Bevölkerungsgruppen, bei denen die AKP und Erdoğan sonst überdurchschnittlich gut ankamen.
Schwache Zustimmung
Ende vergangenen Jahres rutschte die Regierungspartei AKP in Umfragen erstmals hinter die Oppositionspartei CHP. Seither erreichen die Werte der konservativ-islamistischen Partei Werte selten mehr als 35 Prozent. Bei den zuletzt stattgefunden Parlamentswahlen 2018 gewann die AKP noch mit 42,6 Prozent der Stimmen.
Im Sommer 2023 finden die nächsten Präsidentschaftswahlen statt. Kritiker wittern zum ersten Mal seit 2002 – da kam die AKP mit Erdoğan an die Macht – die reelle Chance einer Veränderung. Ein Grund dafür ist auch, dass es mit dem sozialdemokratischen Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu eine starke und beliebte Gegenfigur zu Erdoğan gibt – etwas, woran es der größten Oppositionspartei CHP sonst stets mangelte.
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