"Du bist verrückt", haben ihre Eltern anfangs zu Anna Gasser gesagt, als sich ihre Tochter einst mit 18 Jahren entschieden hat, ihr Studium auf Eis zu legen, nach Amerika zu ziehen und ihr Leben völlig umzukrempeln, um sich voll und ganz dem Freestyle-Snobwoarden zu widmen. Wie viele andere Erwachsene in ihrem Leben haben auch die Gassers Snowboarden damals gar nicht für einen "richtigen Sport" gehalten. Mittlerweile sind mehr als zehn Jahre vergangen, Mama und Papa fiebern bei den Bewerben mit wie sonst kaum jemand und natürlich wissen sie heute auch was "Double Corks", "Underflips", "Melon-Grabs" und "1260s" sind.
Denn immerhin ist ihre Tochter zweifache Olympiasiegerin. Das haben vor ihr nur Trude Jochum-Beiser, Petra Kronberger und Michaela Dorfmeister geschafft – allesamt Skifahrerinnen. Im Snowboard-Big-Air, der erst seit 2018 olympisch ist, bleibt Gasser mit ihrem zweiten Triumph die bisher einzige Olympiasiegerin.
Dafür, dass Anna Gasser es an diesem Dienstag so weit geschafft hat, dankt sie ihrem Team rund um Coach Patrick Cinca und all den anderen, mit denen sie "viele, viele Stunden" zusammengearbeitet hat. "Ohne Team, ohne Personen, denen man vertraut, geht gar nichts", sagt die 30-Jährige kurz nach ihrem Triumph in Peking.
Und doch weiß jeder, der die Kärntnerin kennt, wie viel Mut, Sturheit und gesunder Egoismus dazugehört, um dort zu landen, wo sie heute ist. Vor vier Jahren war Gasser noch die absolute Goldfavoritin, 2022 ist das Spitzenfeld massiv angewachsen. Daran ist sie aber auch selbst "schuld". Der Boom im Frauen-Snowboarden, der von Anna Gasser und ihrer ständigen Weiterentwicklung mitinitiiert worden war, trägt heute Früchte. Junge Snowboarderinnen wie die Neuseeländerin Zoi Sadowski-Synnott (20), Kokomo Murase (17) aus Japan oder Tess Coady (21) aus Australien geben mitunter den Ton an.
Geschichte schrieb am Dienstagmorgen auch die Japanerin Reira Iwabuchi (20), die in ihrem dritten Run einen Frontside Triple Underflip 1260 zeigte, einen Sprung, den noch nie eine Frau in einem Contest gestanden hat (auch Gasser hat es schon probiert). Ganz sauber konnte sie ebenfalls nicht landen, aber für die anderen Snowboarderinnen vor Ort war sie die Heldin des Tages – zumal sie mit gebrochenem Arm startete. Sie kamen, um sie zu feiern, auch wenn es für eine Medaille nicht reichte.
Anna Gasser hat als erste Frau bereits einen Triple geschafft. Doch am Dienstag packte die routinierte Olympiasiegerin, Weltmeisterin und viermalige X-Games-Gewinnerin den Cab Double 1260 aus und zeigte beeindruckend, wie sicher sie den in den chinesischen Schnee setzen kann. Auch bei diesem Trick war sie vor drei Jahren die erste, die ihn stehen konnte. "Ich habe ihn in keinem Training hier gemacht, aber ich konnte nicht besser vorbereitet sein. Wegen diesem Trick bin ich hergefahren", sagte sie.
Cab Double Cork 1260 Melon
- Verkehrt angefahren (rechts statt links vorne)
- Dreieinhalb Drehungen um die eigene Achse
- Zweimal ist das Board dabei über dem Kopf
- Beim Melon-Grab greift die linke Hand auf die Fersenkante zwischen die Bindung
Auf den Rängen zwei und drei landeten Sadowski-Synnott und Murase. Als Gasser so alt war wie die Bronzene Japanerin, fuhr sie noch nicht einmal Snowboard. Erst mit 18 begann sie. In nur wenigen Jahren katapultierte sie sich mit Herz und Ausdauer an die Spitze der Welt, wo sie lange ihresgleichen suchte. Nur die US-Amerikanerin Jamie Anderson konnte mithalten, die vor Gassers Erscheinen auf der Weltbühne alles gewonnen hat, was es zu gewinnen gab.
Ihr erster Cab Double Cork 900 hat sie im November 2013 über Nacht zum Star gemacht, sie war die erste Frau, die diesen Trick stehen konnte. Viele weitere "Firsts" von Gasser sollten folgen.
Doch "mittlerweile ist das Niveau so hoch, dass es für mich teilweise schwer ist, mit den Jungen mitzukommen", sagte Anna Gasser jüngst in einem KURIER-Interview. Doch die 30-jährige Anna Gasser kann mehr als nur mithalten.
Freestyle-Snowboarden bei Olympia ist ein Publikumsmagnet. Der Sport ist international und kontinenteverbindend, die Teilnehmer und Teilnehmerinnen feiern meistens mit ihren Kollegen aus anderen Ländern deren Erfolge. Doch dass Freestyle-Snowboarden harte Arbeit ist, glauben die wenigsten. Dabei muss man der zweifachen Olympiasiegerin im Snowboard-Big-Air nur zuhören, dann hat man ein bisschen eine Ahnung, was es bedeutet, bei einem Großereignis ganz oben zu stehen.
In den vergangenen 48 Stunden hat Anna Gasser emotional und körperlich viel durchstehen müssen, bevor sie am Ende auf der obersten Treppe stehen konnte. Trainingsstürze sind da noch das Mindeste, sie "gehören dazu", sagt die Kärntnerin. Dass sie aber im Training nicht ihr bestes Snowboarden abrufen und perfektionieren konnte, ärgerte sie.
Die Verletzung ihres Freundes und Teamkollegen Clemens Millauer beförderte die Stimmung dann schließlich ganz in den Keller. Er hatte sich beim Training den Knöchel gebrochen und musste abreisen. Er, der sonst so eine wichtige Stütze für Gasser vor und bei den Wettkämpfen ist, würde beim Finale nicht dabei sein. "Der Clemens ist so eine wichtige Person für mich, eine Stütze. Ich wusste im ersten Moment nicht, wie ich das schaffen soll."
Perspektivenwechsel
Doch Anna Gasser arbeitet nicht nur an ihren Tricks, sie ist auch mental eine Klasse für sich. "Meine Perspektive hat sich ziemlich verändert", sagt Gasser, sie habe nicht mehr so sehr an den Bewerb gedacht, sich nicht mehr so viel Druck gemacht. „Man denkt sich dann, dass es wichtigere Sachen als die Medaille gibt.“
"Der geht, der geht", hört man Millauer in seiner Instagram-Story sagen, während er den dritten Run seiner Freundin mit Gips am Knöchel in Innsbruck ansah. Kurz davor hatte der Oberösterreicher noch mit Gasser telefoniert. "Irgendwie ist er doch mitgefahren", sagt die Olympiasiegerin.
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