Psychiater Musalek: "Beim Fußball dachte man lange: Wir sind eh echte Männer"
Michael Musalek (68) war leidenschaftlicher Handballer bei Westwien, ehe er sich für Studium und Laufbahn entschied. Der bekannte Psychiater und Psychotherapeut war fast 16 Jahre lang Vorstand des Anton-Proksch-Instituts.
Sie haben früher bei Westwien gespielt. Wie sehr schmerzt immer noch, dass sich der Traditionsverein vom Profi-Handball verabschiedet hat?
Michael Musalek: Es schmerzt deshalb, weil es ein ganz besonderes Projekt war, wo man versucht hat, nur mit Eigenbauspielern zu reüssieren. Was nicht leicht ist, da das Reservoir überschaubarer ist als in Handball-Nationen wie Dänemark, Frankreich, Norwegen oder Kroatien. Und dass das mit diesen jungen Spielern auch noch zum Titel führte, das ist wunderschön.
Ist dieses Titel-Märchen ein schwacher Trost?
Es ist ein großer Trost, und es zeigt, dass es ein richtiger Weg ist. Was schmerzt, ist der Umstand, dass so ein Weg auf Jahre nicht mehr eingeschlagen wird. Für Westwien ist es vielleicht nicht so dramatisch, denn das hat der Verein schon einmal erlebt – und ist wieder zurückgekommen.
Hätte man das Ganze verhindern können? Hat die Politik das zu einfach zugelassen?
Dafür gibt es viele Gründe. Ein wichtiger war, dass der Verein keine Halle hatte. Man kann keine Sponsoren an Land ziehen, wenn du keinen fixen Ort hast, wo sie zu Hause sein und sich präsentieren können. Viele Dinge wurden versucht, da hätte die Politik durchaus Entwicklungspotenzial. Es ist auch schade, weil es in einer Stadt zwei rivalisierende Klubs braucht. Was wäre Wien ohne Austria und Rapid? Genauso wie Fivers ohne Westwien.
Sie waren bei den letzten Derbys in der Halle mit Emotionen dabei. Ist das der Ort, wo Sie die Contenance verlieren können?
Es ist jedenfalls der Ort, wo ich am meisten aufpassen muss, dass es nicht passiert. Sport emotionalisiert, das ist das Schöne daran. Die Gemeinschaft zu spüren. In einer Halle wird man eins mit der Mannschaft, das ist eine unglaubliche Kraftquelle für das Team.
Wie knapp dran waren Sie an einer Profi-Karriere?
Wir waren damals Halbprofis, eine richtige Profi-Karriere hat es nicht gegeben. Ich war für den Sport letztlich zu klein. Ich habe am Kreis gespielt. Ich habe davor Leichtathletik betrieben und bin recht spät zum Handball gekommen. Nach der Schule habe ich mit dem Studium begonnen und mich dann für die Medizin und gegen den Spitzensport entschieden. Das Herz für den Handball hat weiter geschlagen.
Stimmt der viel zitierte Satz, dass Sport die beste Lebensschule ist?
Man muss hier zunächst Einzel- und Mannschaftssport voneinander trennen. Beim Einzelsport lernt man beispielsweise: Wenn man etwas tut, dann kann das durchaus zum Erfolg führen. Beim Mannschaftssport kommt das soziale Moment dazu, das ist eine ganz besondere Lebensschule. Ich persönlich habe im Sport gelernt zu verlieren. Das klingt banal, ist aber gar nicht so einfach, wenn einem etwas genommen wird. Wenn man das im Sport erlebt hat, dann kann man damit im Leben durchaus gut umgehen.
Enttäuschungen wegzustecken beispielsweise?
Richtig. Auch den Unterschied zu erkennen zwischen Erwarten und Hoffen, der ein großer ist. Es ist ganz etwas anderes, wenn man eine Partie verliert oder wenn man sie nicht gewinnt. Es fühlt sich ganz anders an.
Was genau meinen Sie?
Wenn ich einen Sieg erwarte, dann habe ich ja quasi schon gewonnen und ich brauche ihn nur noch abzuholen. Wenn man dann nicht gewinnt, dann wurde einem etwas weggenommen. Ich kann ja nur verlieren, was ich vorher schon gehabt habe. Und das Hoffen ist genau umgekehrt. Ich habe zwar den Blick auf den Sieg, aber ich habe ihn noch nicht. Daher kann ich auch nichts verlieren. Rapid konnte im Duell mit Fiorentina nur gewinnen. Was man verlieren kann, hat man bei der Austria im Europacup gesehen. Aber das ist eine ganz besondere Leidensgeschichte von mir.
Gibt es im Sport auch negative Dinge, die man ins Leben mitnehmen kann?
Natürlich gibt es körperliche Schädigungen, unter denen man den Rest des Lebens leiden kann. Aber da hat sich viel geändert. Damals hat es bei uns keine echten Trainingspläne gegeben, mehr war einfach besser. Psychisch könnte ich mir vorstellen, dass sich einige später ausgeschlossen fühlen. Wenn du immer nur auf der Bank sitzt, macht das schon etwas mit einem Menschen. Zum Wesentlichen eines Spiels fällt mir ein Spruch ein.
Und zwar?
Der Maler Marcel Duchamp hat einst gesagt: Es geht im Leben um Ernst im Unernst und Unernst im Ernst. Furchtbar ist es, wenn man spielt und die Leute nehmen es nicht ernst. Wenn es umgekehrt todernst genommen wird, ist es auch nicht gut. Wichtig ist, das spielerische Element ins Leben mit hinüberzunehmen. Man muss Ironie und ein Lächeln zulassen.
Kann sich durch den Sport eine Sucht nach Erfolg entwickeln?
Mit dem Begriff Sucht müssen wir vorsichtig umgehen. Das ist eine sehr komplexe Erkrankung, die eine komplexe Behandlung erfordert. Landläufig sprechen wir von Sucht, wenn man etwas übermäßig macht. Natürlich kann das im Sport passieren, daher ist die Jugendarbeit so wichtig. Dort brauchen wir Leute, die vom Fach und von der Psychologie einiges verstehen. Der junge Mensch muss das lernen. Beim Handball lernt man den Unterschied zwischen Fairness und Härte. Das Foul ist ein integrativer Bestandteil des Spiels. Aber jeder weiß ganz genau, ob das eine faire Attacke war oder nicht.
Ist Handball fairer als Fußball?
Aus meiner Sicht ja. Weil der Handballer weiß, dass es gefährlich werden kann, wenn man unfair agiert. Man würde beim Handball zum Beispiel niemandem ein Bein stellen.
Wie groß ist der Anteil der Psyche bei einer Leistung?
Man braucht eine sehr gute körperliche Voraussetzung, um gewinnen zu können. Aber gewonnen wird eine Partie nur im Kopf. Der Titel von Westwien ist so ein Beispiel. Hard und Krems haben möglicherweise da und dort bessere Einzelspieler. Die Kunst ist es aber besser zusammen zu spielen. Einer allein kann nicht gewinnen.
Messi hat also nicht allein die WM gewonnen?
So ist es. Sie haben für ihn gespielt und er mit ihnen. Messi ist für mich ein Paradebeispiel des Spitzenspielers.
Warum?
Ich traue mich zu postulieren, dass Messi nicht aufs Feld läuft, nur um Tore zu schießen, sondern um schöne Aktionen zu machen, jemanden genial aussteigen zu lassen. Die Tore kommen dann ohnehin.
Mentaltraining war lange Zeit, vor allem im Fußball, verpönt. Weshalb?
Das Problem bei der Psyche und psychischen Störungen ist, dass das Thema stigmatisiert ist. Es gilt als Schwäche. Die ersten, die erkannt haben, dass das nicht so ist, waren die Skispringer. Ein höchst komplexer Sport. Beim Fußball hat man lange gedacht: Wir sind eh echte Männer, wir können alles.
Eine falsch verstandene Männlichkeit?
Ja. Ganz nach dem Motto: Der Psychologe ist etwas für die Schwachen. Ich bin ein Mann, ich habe alles im Griff. Interessant ist: Jene, die Mentaltraining am wenigsten brauchen, sind am ehesten dazu bereit, weil sie genug Selbstwert besitzen.
Sind Profisportler nach einer Karriere mehr oder weniger Sucht gefährdet als der Durchschnitt?
Eine seltene niedrigdosierte Einnahme eines Suchtmittels macht noch keine Suchterkrankung. Bestes Beispiel: Viele Österreicher trinken Alkohol, nur fünf Prozent sind wirklich alkoholkrank. Im regelmäßigen hochdosierten Konsum liegt die Gefahr.
Bei Siegesfeiern ist fast immer Alkohol im Spiel. Ist das problematisch?
Ich halte für problematisch, dass wir in Österreich einen unmittelbaren Reflex haben – wenn wir was feiern, müssen wir Alkohol trinken. Ohne gibt’s keine Feier. Eigentlich ist es tragisch, weil Alkohol früh anästhesierend wirkt. Wenn wir nach einem Erfolg etwas besonders schön erleben wollen, führen wir uns eine Substanz zu, mit der wir es weniger spüren. Mehr als das Ritual von Alkohol bei der Siegesfeier stört mich aber die TV-Werbung. Ich würde Alkohol-Werbung im TV rund um ein Sportereignis verbieten.
Was raten Sie einem Sportler, der Hilfe bei gefährlichen Substanzen sucht, um Enttäuschungen verarbeiten zu können?
Da muss schon in der Jugendarbeit angesetzt werden. Später ist es wichtig, dass jede Mannschaft so wie einen Masseur auch einen Experten für die Psyche hat. Nicht jeder Sportler braucht einen Psychotherapeuten. Aber ab und zu wäre es schon gut, wenn man da Gespräche führen kann. So wie ich Knieschmerzen behandeln kann, kann ich auch psychische Probleme behandeln. Das muss enttabuisiert werden.
Sportler können Millionen verdienen. Sie müssen in unserer Leistungsgesellschaft aber auch immer abliefern. Um Spaß geht es da kaum noch. Ist das ein Spiegel der Gesellschaft?
Letzteres, aber ich muss Ihnen auch widersprechen: Wir leben gar nicht in einer Leistungsgesellschaft. Es geht überhaupt nicht um Leistung – sondern um Erfolg. Solange ich Erfolg habe, wird keiner meine Leistung anzweifeln. Wenn ich in meinem Beruf erfolglos bin, wird in unserer Gesellschaft aber niemand meine Leistung hervorheben. Eine echte Leistungsgesellschaft wäre hingegen solidarisch, weil wir wissen, dass wir unterschiedlich leistungsfähig sind, auch eine gute Leistung nicht zum Sieg führen muss. Das macht wohl auch die Faszination Fußball aus – im Handball wäre es undenkbar, dass ein Drittligist einen Erstligisten, der es ernst nimmt, besiegt. Durch den Glücksfaktor ist das im Fußball hingegen möglich.
Werden wir jemals die von Ihnen beschriebene Leistungsgesellschaft erleben?
Der Weg dorthin ist lange und schwer. Ein Vorbild wäre der Behindertensport: Bei den Paralympics wird honoriert, was jeder angesichts seiner Möglichkeiten leistet. Dagegen spricht, dass der erste Platz im Sport und alles, was daran hängt, auch ein großes Wirtschaftsmodell ist.
Ist Sport ein erfolgreiches Therapiemittel?
Ja, ein hochwirksames. Allerdings muss es individuell abgestimmt werden. Was für alle gilt, ist der positive Effekt von Bewegung. Wenn man 20 Minuten geht, werden so viele psychotrope Substanzen ausgeschüttet, dass man sich wohler fühlt. Mir ist es völlig unverständlich, warum man fünf Stunden pro Woche Mathematik hat, sich in der Schule aber nur einmal in der Woche bewegt. Mehr Sportunterricht wäre gesund.
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