Die Fußball-WM in Katar ist mit Sicherheit die umstrittenste der Geschichte. Die Diskussionen über Ausbeutung, Menschenrechte, gar Boykott drängten im Vorfeld der Endrunde den Fußball oft in den Hintergrund. Zwölf Jahre nach der zweifelhaften Entscheidung für die Endrunde im Wüstenstaat wird es aber ab Sonntag sportlich ernst. Es wird Fußball gespielt, Katar tritt gegen Ecuador an. Beide Teams zählen nicht zum Favoritenkreis auf den Titel. Dabei kommt es nach Meinung der KURIER-Sportredaktion zur ewigen Auseinandersetzung zwischen Südamerika und Europa.
Bis 2010 konnte nie ein europäisches Team bei einer Endrunde außerhalb Europas gewinnen. Doch Spanien brach in Südafrika den Bann, Deutschland legte 2014 in Brasilien nach. Erstmals in der Geschichte gibt es eine Winter-Weltmeisterschaft. Das hat zur Folge, dass die Vorbereitung auf die Endrunde so kurz ist wie noch nie. Daher kommt es vor allem darauf an, wie eingespielt die Teams sind, wie gut das Fingerspitzengefühl der Teamchefs ist, wie professionell in den medizinischen Abteilungen gearbeitet wird.
Lange Zeit war der linke untere Zipfel auf der deutschen Fußball-Landkarte Niemandsland. Tiefschte Provinz, eingepfercht zwischen Vogesen, Jura und Bodensee, belächelt vom schwäbischen Erzrivalen mit seinem VfB Stuttgart, allein aufgrund des Dialekts schon unverstanden vom großen Rest der Republik.
Als sich 1991 ein Lehrer vom Norden in den Südwesten aufmachte und den SC Freiburg 1993 in die Bundesliga führte, wurde das als Betriebsunfall abgetan. 29 Jahre später fahren mit Matthias Ginter (im Sommer ablösefrei aus Mönchengladbach zurückgekehrt) und dem Schwarzwälder SC-Urgestein Chrischtian Günter gleich zwei Südbadener mit zur WM nach Katar und halten die Fahne des Bundesliga-Zweiten hoch. Das gab’s noch nie. Das muss etwas werden. Und wenn nicht, liegt die Ausrede auf der Hand: Chrischtian Schtreich isch nach wie vor Trainer beim Esszeh und nicht beim DFB. Und das ist gut so.
Von Stefan Sigwarth
ARGENTINIEN
Lionel Messi hat schon 35 Lenze auf dem Buckel und in den Beinen und ließ mit einer Aussage in einem Interview mit Movistar aufhorchen: "Ich liebe den Fußball. Ich habe mein Leben lang nur Fußball gespielt und werde dem Sport auch später erhalten bleiben, egal in welcher Form. Aber ich glaube nicht, dass ich noch lange spielen werde." Die WM in Katar ist seine letzte Chance, genau jenen Titel zu holen, der ihm noch in seiner herausragenden Karriere fehlt.
Anhänger der Fußballromantik glauben an Argentinien und Messi und einen Kreis, der sich in der Wüste schließen könnte. Argentinien holte 2021 die letzte Copa América, die Südamerika-Meisterschaft, und stellte damit unter Beweis, dass trotz der Individualisten auch ein funktionierendes Team am Werk ist. Daran sollte sich innerhalb eines Jahres nicht allzu viel geändert haben. Lionel Messi ist auf den Geschmack gekommen.
Von Alexander Strecha
PORTUGAL
An dieser Stelle hätte eigentlich eine Lobeshymne auf Italien angestimmt werden sollen. Doch die Squadra Azzurra hat sich ja dazu entschlossen, die WM in Katar zu boykottieren, und so geht der vierfache Weltmeister nicht einmal als geheimster Geheimfavorit durch. Womit wir schon bei Portugal wären. Man braucht wenig Fantasie, um sich diese Mannschaft am 18.12. als neuen Champion vorzustellen. Die europäische Seleção präsentiert geballte Weltklasse in allen Mannschaftsteilen und ist auf dem Papier noch stärker als das Team, das 2016 Europameister wurde.
Die Protagonisten sind Leistungsträger bei Paris SG, Manchester City und United, dazu kommen Jungstars wie Leão oder João Félix. Und dann ist ja da auch noch der berühmte CR7, der mit 37 erstmals ausgeruht zu einer Endrunde kommt. Dass der Altstar bei ManUnited im Herbst nur als Joker gebraucht wurde, könnte der große Trumpf der Portugiesen werden.
Von Christoph Geiler
FRANKREICH
Qualität hat ihren Preis, aber fehlende Qualität kostet mehr. Frankreichs Kader hat einen Wert von mehr als einer Milliarde Euro, über mangelnde Qualität muss sich Teamchef Didier Deschamps wahrlich keine Gedanken machen. Mit Kylian Mbappé hat er den wahrscheinlich besten Spieler der Gegenwart in seinen Reihen. Dazu kommt unter anderem der aktuelle Weltfußballer Karim Benzema.
Wenn man Altstar Olivier Giroud, der zuletzt auch in der Champions League gegen Salzburg seine Klasse unter Beweis gestellt hat, als Joker auf der Bank hat, sagt das viel über die Stärke einer Mannschaft aus. Auch wenn das zentrale Mittelfeld von der WM 2018 ausfällt (Kanté und Pogba), auch wenn Tormann Hugo Lloris seinen Zenit vielleicht schon überschritten hat – Frankreich ist auf allen Positionen Weltklasse. Skandale wie jener bei der WM 2010 gehören der Vergangenheit an. Qualität wird sich durchsetzen, deshalb wird Frankreich den Titel holen.
Von Silvana Strieder
ENGLAND
Warum England? Weil es einfach Zeit ist! Als die Three Lions 1966 das erste und bisher einzige Mal den Titel holten, war die damals 40-jährige Queen im Stadion, Udo Jürgens gewann mit "Merci Chérie" den Song Contest, und der aktuelle Teamchef Gareth Southgate war noch nicht geboren.
Seitdem hofft eine ganze Nation alle vier Jahre darauf, dass der Pokal wieder geholt wird, alle vier Jahre scheitert das Mutterland des Fußballs grandios. 156 Spieler dieser WM verdienen ihr Geld in England, im 26-Mann-Kader von Southgate stehen 25 Profis, die sich Woche für Woche mit den Besten der Welt messen. Mit Jordan Pickford hat man einen Tormann ohne "Butterfinger" und mit Superstürmer Harry Kane zumindest einen Spieler, der auch vom Punkt treffen kann. Wie alle vier Jahre werden die englischen Fans ihre "Football’s coming home"-Chöre anstimmen. Diesmal wird die Trophäe dahin zurückkehren, wo sie auch hingehört.
Von Florian Plavec
BRASILIEN
Es wird die WM des Neymar. Irgendwann muss das Glück zurückkommen. 2010 hat ihn Teamchef Dunga nicht mitgenommen, obwohl ihn 14.000 Fans in einer Petition gefordert haben. 2014 hat ihm im Viertelfinale ein wild gewordener Kolumbianer das Knie in den Rücken gerammt. Weshalb ihm die 1:7-Blamage im Semifinale gegen Deutschland erspart blieb. Und 2018 geriet er mit seinen Sterbeeinlagen zur Lachnummer und schied im Viertelfinale gegen Belgien aus. Aber das ist Geschichte. Neymar führt mit 30 Jahren die Routinier-Achse mit Spielorganisator Casemiro, Abwehrchef Thiago Silva und Tormann Alisson Becker an. Um sie scharen sich junge Wilde wie Vinícius Júnior, Rodrygo, Antony und Raphinha. 20 Jahre Abstinenz sind genug. Brasilien holt den ersten WM-Titel seit 2002 auch, weil sie mit Tite einen Trainerfuchs auf der Bank haben, der die Lehren aus seiner ersten WM ziehen wird.
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