Martin Rinderer ist seit 15 Jahren im Spitzensport tätig. Zuerst als Physiotherapeut, heute vor allem als Ernährungscoach. „Über meine Arbeit als Physio bin ich ins Thema Ernährung gerutscht, weil ich gesehen habe, dass Sportler schneller fit werden, wenn sie sich mit Ernährung und Schlaf auseinandersetzen“, erzählt der 39-jährige Vorarlberger, der schließlich Ernährungswissenschaften studierte, aktuell an seinem Doktorat arbeitet und viele Athleten aus allen Sportarten betreut. Seit einem Jahr zählt er zum BetreuerstabvonRalf Rangnick beim österreichischen Fußball-Nationalteam.
KURIER: Wie kam es dazu, dass Sie sich heute um die Ernährung der österreichischen Fußballer kümmern?
Martin Rinderer: Ralf Rangnick wollte dem Thema Ernährung ein Gesicht geben. Sonst macht der Koch ein bisschen was, der Masseur ein bisschen was, der Physiotherapeut auch, aber es gibt kein Konzept und kein System dahinter. Das ist generell eine Herausforderung im österreichischen Profifußball. Mit Sturm und Salzburg haben aktuell nur zwei Vereine einen hauptamtlichen Ernährungscoach. Ich glaube nicht, dass man so nebenbei einen Verein in diesem Bereich entwickeln kann.
Das Team ist ein Sammelsurium aus völlig unterschiedlichen Hintergründen und Personen. Es gibt Spieler aus Spitzenvereinen, die es gewohnt sind, alle drei Tage zu spielen. Aber es gibt auch viele, die das nicht gewohnt sind. Wenn ich einmal in der Woche spiele, schaffe ich es immer, bis zum nächsten Spiel auf einem hohen Energielevel zu sein. Bei einer Europameisterschaft mit Spielen alle vier Tage ist es eine zusätzliche Hauptaufgabe, sich richtig zu ernähren und zu schlafen.
Apropos Schlaf. Wie wichtig sind die Einzelzimmer für die Spieler geworden?
Viele haben kleine Kinder zu Hause. So schön das ist, die Schlafqualität ist nicht die gleiche. Die freuen sich dann über die Ruhe. Aber das ist ein sehr individuelles Thema und kann auch zum Nachteil werden, wenn es jemandem zu ruhig ist. Je nachdem, wie das Teamgefüge ist, fallen solche Dinge ins Gewicht.
Wie individuell sind Ernährungsgewohnheiten?
Essen ist nach Beziehung und Sexualität wohl das Persönlichste und Intimste im Leben eines Menschen. Und wenn das Essen wochenlang gut schmeckt und zu mehr sozialer Interaktion führt, ist das erfolgsmitentscheidend. Deshalb machen wir uns viele Gedanken, welche Besonderheiten wir aus emotionaler und geschmacklicher Sicht, neben allen Performance-Themen, einbringen können.
Sie arbeiten im Olympiazentrum Vorarlberg auch mit Einzelsportlern verschiedenster Sportarten. Wie unterscheidet sich Ihre Herangehensweise, wenn Sie jetzt mit Fußballern arbeiten?
Mein Ansatz ist immer der gleiche – individuell und wissenschaftlich. Aber im Einzelsport ist man am Ende zu 100 Prozent selbst für seine Leistung verantwortlich. Deshalb ist das Bewusstsein, alles für sich zu tun, um Fehler zu minimieren, teilweise stärker verankert als im Mannschaftssport. Bei der Ernährung laufen manche Einzelsportler aber auch Gefahr, zu perfektionistisch zu sein. Die Gefahr, in ein gestörtes Essverhalten zu rutschen, ist im Fußball sicherlich wesentlich geringer als im Individualsport, wo viele meinen, alles perfekt machen zu müssen.
Und das ist schlecht?
Perfektionismus ist negativ und Essen kann nur wirken und funktionieren, wenn es emotional positiv ist. Wenn das Essen nicht gut schmeckt, wird es weniger gut funktionieren, als wenn das gleiche Essen für die gleiche Funktion gut schmeckt. Sporternährung wird leider immer nur auf die Funktionalität reduziert, aber die Emotion ist mindestens genauso wichtig. Darin liegt eine Stärke des ÖFB-Teams, für die aber unser Koch Fritz Grampelhuber verantwortlich ist.
Für Emotionen sorgen im Team offensichtlich immer wieder selbstgemachte Gamskäsekrainer.
Die gehören dazu. Aber auch wenn es mal einen Burger gibt, dann wissen wir genau, welches Brot und welches Fleisch wir verwenden und wie die Sauce zusammengesetzt ist. Und das ist keine fettreiche Sauce. Der Spieler hat dann das Gefühl, wir essen Junkfood, aber in Wirklichkeit bekommen sie genau das an Nährstoffen, was wir wollen. Wir wissen, wie viel Eiweiß auf den Teller kommt, und wir kennen den Salzgehalt für die Rehydrierung. Wir haben die Kontrolle über die Zubereitung und wissen auch, was in den Gamskäsekrainer drin ist. Der Koch weiß, wo und wie die Tiere aufwachsen und holt die Würste selbst ab. Für die Spieler ist es ein emotionaler Ausbruch aus der gesunden Sporternährung, aber wir haben die Kontrolle und steuern.
Immer mehr Spitzensportler ernähren sich vegan. Gibt es auch Veganer im ÖFB-Team und wie sehen Sie Veganismus im Spitzensport?
Vegetarier gibt es, vegan ernährt sich derzeit niemand. Für mich stehen zwei Punkte im Vordergrund. Zum einen: Vegan oder Mischkost ist noch keine Qualitätsaussage. Ich kann mich vegan ernähren „wie ein Schwein“, wenn ich zum Beispiel ständig Industrieweizennudeln esse. Und zweitens die bereits erwähnte Emotionalität. Wenn eine Ernährungsweise dazu führt, dass ich immer schlecht gelaunt bin, weil es für mich Stress bedeutet, sie einzuhalten und ich nicht in der Lage bin, eventuelle Nährstoffmängel qualitativ auszugleichen, dann ist diese Ernährungsform für diese Person nicht praktikabel. Der Veganismus ist eine sehr extreme Ernährungsform, ebenso wie der carnivore Diät, die sich vorrangig auf Fleisch konzentriert. Wenn ich keine ethischen, moralischen oder religiösen Gründe habe, würde ich es genau abwägen. Eine hochwertige vegetarische Ernährung ist im Leistungssport kein Problem und viel näher an der Mischkost als am Veganismus, der oft eine starke Einschränkung in der Lebensmittelauswahl bedeutet. Vegane Leistungssportler kommen früher oder später zu der Frage: Schaffe ich das quantitativ, qualitativ und emotional positiv?
Und wenn nicht?
Dann kann man sich immer noch fragen: Muss ich das zu 100 Prozent durchziehen oder esse ich zwei Hühnereier pro Woche oder einmal im Monat ein sehr hochwertiges rotes Fleisch, das mir das Thema Eisen und B-Vitamine abdeckt. Perfektionismus und Absolutismus sind für mich problematisch.
Ein Blick vom Spitzensport auf die Gesellschaft. Mehr als die Hälfte der Erwachsenen und ein Viertel der Kinder in Österreich sind übergewichtig. Wie kann man dem entgegenwirken?
Aus meiner Sicht müssen Gesundheit, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit wieder einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft bekommen. Und damit auch das Thema Bewegung. Bewegung ist die schnellste und effizienteste Wunderpille. Früher mussten wir uns bewegen, um zu essen, und ich habe so gegessen, dass ich mich wieder bewegen konnte, weil ich mich bewegen musste, um wieder zu essen. Seit wir das Auto, den Supermarkt, den Kühlschrank und ein gutes Sozialsystem haben, ist dieser evolutionäre Druck weg. Ich kann essen, was ich will und mich danach fünf Tage schlecht fühlen. Aber deswegen verhungere ich nicht. Heute müssen wir uns bewusst dafür entscheiden, uns so zu bewegen und zu ernähren, dass es uns gut geht.
Das wollen aber nicht alle.
Genau, weil das Interesse dazu fehlt oder das Bewusstsein, weil Gesundheit eben auch Bildungssache ist. Und leider – und das ist traurig – teils auch eine Sache der Finanzierbarkeit. Obwohl wir ein ausgezeichnetes Gesundheits- und Sozialsystem haben, ist die Finanzierbarkeit einer gesunden Ernährung kein Selbstläufer. Das ist ein erster dramatischer Widerspruch. Weiters ist Essen für viele kein Genuss, sondern ein Muss schnell zwischendurch. Es steht aber nicht mehr für soziale Interaktion und tolle Emotionen. Und drittens bekommen wir in sozialen Netzwerken noch vorgegaukelt, wie mit verschiedensten extremen Diäten und bearbeiteten Fotos Erfolge innerhalb von Tagen scheinbar ohne Aufwand erreicht werden. So erhält Essen und damit die Gesundheit einen negativen, gestressten Touch. Schon bei Kindern. Ein Teufelskreis aus ernährungspsychologischer Sicht. Wenn wir hier keine Trendwende schaffen, ist das heute nur die Spitze des Eisbergs.
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