Es wird von vielen als das „vorgezogene Endspiel“ bezeichnet, wenn heute im Viertelfinale (18 Uhr/live ORF 1, ARD) in Stuttgart Gastgeber Deutschland und Mitfavorit Spanien aufeinandertreffen. Als die beiden Fußball-Nationen sich tatsächlich in einem EM-Endspiel, 2008 in Wien, gegenüberstanden, war Lamine Yamal gerade einmal 11 Monate alt. Dessen spanischer Teamkollege Nico Williams sowie die Deutschen Jamal Musiala und Florian Wirtz waren immerhin schon fünf Jahre.
Bei der laufenden Europameisterschaft spielen diese vier Jungstars in ihren jeweiligen Teams groß auf. Wirtz schoss das allererste Tor dieser Endrunde, Musiala hat bereits dreimal getroffen. Williams zählt ein Tor und einen Assist, Lamine Yamal hält bei zwei Vorlagen. Getroffen hat er zwar noch nicht, aber mit seinen Dribblings und seinem Spielwitz verzückte er in den vergangenen Wochen spanische wie neutrale Fans – und das, während er im Teamhotel nebenbei noch für seine Schulprüfungen lernen musste.
Die hat er bestanden, weshalb die volle Konzentration nun der EM gilt.
Angstgegner Deutschland gegen Spanien – das war in der jüngeren Vergangenheit ein ungleiches Duell. Die Spanier gingen bei den jüngsten Turnieren immer als Sieger hervor und fügten der DFB-Elf empfindliche Niederlagen zu.
Pleitenserie Bei der EM 2008 verloren die Deutschen im Endspiel gegen Spanien mit 0:1. Bei der WM 2010 kam im Semifinale das Aus (0:1). In der Nations League setzte es 2020 gar ein 0:6.
36 Jahre sind seit dem letzten deutschen Sieg in einem Pflichtspiel vergangenen. Bei der Heim-EM 1988 gab es ein 2:0 gegen die Spanier. Vom aktuellen deutschen Team war damals nur Torhüter Manuel Neuer auf der Welt.
Deutschland
Völlig losgelöst: Zwei 21-Jährige lassen alle alt aussehen
Wem ein Match genügt, um sich einen Liebkose-Namen zu machen, den heute ganz Deutschland kennt, der hat es weit gebracht. Der 5:1-Auftakterfolg gegen Schottland war die Geburtsstunde von „Wusiala“, seither gibt’s Florian Wirtz und Jamal Musiala nur mehr im dynamischen Doppelpack.
Die beiden 21-Jährigen sind nicht nur das jugendliche Gesicht dieser deutschen Nationalmannschaft, „Wusiala“ verkörpern im EM-Gastgeberland auch die Titel-Träume. „Die zwei sind Unterschiedsspieler“, schwärmt Goalgetter Niclas Füllkrug, der ja selbst ein Unterschiedsspieler ist, vor dem Viertelfinale gegen Spanien.
Ein Teamchef, der solche Ausnahmekönner wie Wirtz und Musiala in seinen Reihen hat, darf sich glücklich schätzen. Die zwei Jungstars haben die deutsche EM-Fan-Hymne „Major Tom“ beherzigt und agieren bei diesem Turnier bisher „völlig losgelöst“.
Florian Wirtz ist seit seinem Treffer im Auftaktmatch gegen Schottland der jüngste deutsche Torschütze der EM-Geschichte, Jamal Musiala führt nach seinem 2:0 im Achtelfinale gegen Dänemark mit drei Toren die Torschützenliste an. „Wir brauchen die zwei Zauberer da vorne“, weiß der deutsche Bundestrainer Julian Nagelsmann.
Die magischen Momente sehen bei „Wusiala“ oft so spielerisch aus: Wenn sie Tempo aufnehmen und die Gegenspieler locker lässig abschütteln als wären sie Fliegen auf den Trikots; wenn sie Pässe spielen, die man so nicht erwartet hätte; wenn sie mit einfachen Körpertäuschungen mehrere Verteidiger gleichzeitig in die Irre führen; und wenn der Ball immer dort landet, wo er hin soll.
Beim 5:1 gegen Schottland unterlief Musiala kein einziger Fehlpass. „Ich weiß, was der Ball mag“, sagte der Bayern-Star diese Woche im Spiegel und erklärt: 60 Prozent seiner Aktionen wären Strategie, beim Rest vertraut er seiner Intuition.
Florian Wirtz tickt ähnlich. „Wir beide haben die gleiche Fußballidee“, sagt der Regisseur von Meister Leverkusen. In früheren deutschen Nationalmannschaften standen sich die Spielmacher bisweilen im Weg und konnten und wollten sich nicht gemeinsam entfalten. Wirtz und Musiala spielen nach dem Motto: Gleich und gleich gesellt sich gerne.
„Sie haben beide eine sehr gute Mentalität und sind null abgehoben“, erklärt Bundestrainer Julian Nagelsmann. Und angesichts seiner Expertise muss den Gegnern Angst und Bang werden. „Beide haben noch deutlich mehr im Köcher.“
Schere, Stein, Papier: Das neue Tikitaka der Tiktok-Generation
Die Spielfreude von Lamine Yamal (16) und Nico Williams (21) offenbarte sich in einem viral gegangenen Video nach dem Sieg gegen Georgien im EM-Achtelfinale: Ein schnelles Schere-Stein-Papier, wer zuerst aus der Flasche trinken darf. Williams gewann gegen Yamal.
Die beiden Jungstars bilden die kongeniale Flügelzange des spanischen EM-Teams, die Fußballfans seit beginn der EURO begeistert – Rechtsfuß Williams am linken Flügel und Linksfuß Yamal am rechten Flügel. „Wenn sie den Ball gewinnen, versuchen sie sofort, nach vorne zu spielen“, sagt Leroy Sané über seine Viertelfinalgegner. „Jetzt haben sie noch eine zusätzliche Waffe mit ihren blitzschnellen Flügelspielern.“ Dass die beiden nicht nur mit ihrer Technik und ihren Dribblings, sondern insbesondere auch mit Spielverständnis bestechen, macht sie zum Trumpf der Furia Roja.
Lamine Yamal Nasraoui Ebana wuchs als Sohn eines Marokkaners und einer Äquatorialguineerin in einfachen Verhältnissen in Mataró, einem Vorort von Barcelona, auf. Das lässt er Fans auch immer wieder wissen, wenn er beim Torjubel mit den Fingern die 304 zeigt, die Endziffern der Postleitzahl von seinem Bezirk Rocafonda in Mataró.
Mit sechs wurde er für „La Masia“ auserwählt, die Jugend-Akademie des FC Barcelona, wo er blitzschnell aufstieg. Mit 14 lud ihn Trainer Xavi zum Training der Profis ein, mit 15 spielte er erstmals in der spanischen Liga. Und mit 16 Jahren und 338 Tagen lief er in Berlin als jüngster Teilnehmer der EM-Geschichte ein. Lamine Yamal ist so jung, dass sogar kurz fraglich war, ob er rein rechtlich überhaupt die EM-Abendspiele spielen dürfe, denn nach 20 Uhr dürfen 16-Jährige laut Jugendarbeitschutzgesetz gar nicht mehr arbeiten.
Das Problem hat sein Kollege Nico Williams mit seinen 21 Jahren nicht mehr. Dass er überhaupt hier sein und für Spanien spielen kann, verdankt er seinen Eltern, die 1993 aus Ghana durch die Sahara zur spanischen Enklave Melilla gewandert sind und dort um Asyl angesucht haben. Angekommen im spanischen Baskenland, hat sich ein gewisser Pater Iñaki der Familie angenommen, nach dem die Eltern den wenige Monate später geborenen ersten Sohn benannten. Neun Jahre später kam Nico in Pamplona auf die Welt. Der Vater arbeitete in England und der ältere Iñaki wurde nicht nur zum Fußballer, sondern auch zur Vaterfigur für den kleinen Bruder.
Als Iñaki Williams mit 18 zu Athletic nach Bilbao ging, um Profi zu werden, mietete er von seinem ersten Gehalt eine Wohnung für seine Familie und holte alle nach Bilbao. Auch Nico begann dort bei Athletic zu spielen – das Talent wurde schnell erkannt. Während Bruder Iñaki für Ghana spielt, ist Nico mit 18 in den A-Kader der Spanier aufgestiegen. Beide stehen bei Athletic unter Vertrag. Noch. Denn wenn es nach Lamine Yamal geht, wechselt sein Freund bald zum FC Barcelona: „Ich würde es lieben, wenn er zu uns kommen würde.“ Allerdings sind auch Premier-League-Klubs wie Chelsea und Arsenal an ihm interessiert. Die Ausstiegsklausel gibt 58 Millionen Euro vor.
Die beiden Freunde können ja Schere, Stein, Papier um seine Zukunft spielen.
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