Wie eine WM-Woche in Katar den Blick auf den Fußball verändern kann

Bereits im Flugzeug von und nach Katar kann man sich das ganze Elend dieser WM vor Augen führen lassen. Diego Armando Maradona und David Beckham übernehmen diese Aufgabe gerne.
Im Unterhaltungsprogramm an Bord zeigt eine Dokumentation, wie der eine (Maradona) sich unsterblich macht, indem er Tore erzielt, so himmlisch schön und so teuflisch genial, wie man es vorher und nachher nur noch selten gesehen hat. Der andere (Beckham) macht in einem Werbefilmchen als offizieller Botschafter des Gastgeberlandes Katar perfekte Figur und sich damit zeitgleich lächerlich. Aber immerhin auch noch reicher, als er ohnehin schon ist.
Man muss natürlich dazu sagen, dass Maradona, diese übergroße Figur des Weltfußballs, nur auf dem Spielfeld ein Heiliger gewesen ist. Aber immerhin. So einen könnte generell jedes Fußballturnier gut gebrauchen, aber dieses hier in und rund um Doha ganz besonders.
Es ist eine Endrunde, die einzigartig wie umstritten ist. Eine Woche ist sie nun alt. Ein paar Tage vor Anpfiff begann die Reise ins Emirat. Mit im Gepäck: Dutzende Rechercheideen, Tonnen von kritischen Stimmen, zwei kurze Hosen, kaum WM-Stimmung.

Die muss natürlich auch nicht vorherrschen, schon klar, immerhin steht die Berichterstattung im Vordergrund. Der Blick auf das Innerste mit ausreichend Distanz. Dennoch müssen ein bisschen Leidenschaft und eine gesunde Portion Kritik einander nicht zwingend widersprechen.
Aber, so viel lässt sich sagen nach vielen Erlebnissen und zahlreichen Gesprächen mit Reichen und Armen in den vergangenen Tagen am Persischen Golf: Es ist schwieriger geworden, der Fußball macht es einem nicht mehr so einfach, ihn zu mögen.
Dabei hätten viele ein bisschen Zerstreuung gerade gut gebrauchen können. Ein einendes Weltereignis in Zeiten, in denen das Trennende den Alltag bestimmt. Erst Corona, dann der Krieg mitsamt seinen wirtschaftlichen Folgen. Und nun auch noch diese WM? „Du schaust Dir das an?“ „Darf man doch nicht!“
Fußball ist ein simples Spiel, das für jeden, wann auch immer im Leben, gleich beginnt: drei gegen drei, fünf gegen fünf, erst viel später elf gegen elf. Irgendwann wird es vielleicht ein bisschen ernster, für manche im Verein. Im Kern aber bleibt es ein unschuldiges Spiel, voll von Wendungen und Zuspitzungen, mit vielen Favoritensiegen und gar nicht so wenigen Außenseitererfolgen.
Lange Zeit verlangte Fußball in meiner kleinen Welt keine große gesellschaftliche Haltung, außer vielleicht: Frankreich oder Brasilien (natürlich Frankreich), Balakow oder Hagi (natürlich Hagi), Geometrisches Zeichnen oder WM-Vorrunde (raten Sie einmal!).
Es ist ein romantischer Gedanke, den man vermutlich auch naiv nennen kann. Der Fußball hat auch schon früher sehr viele Menschen sehr reich gemacht. Er war selbstverständlich nie unpolitisch, es gab oft Absprachen und immer wieder Korruption. Und doch war das Spiel einigermaßen erhaben von all dem Wahnsinn drumherum. Sobald der Ball rollte, schien zumindest für 90 Minuten alles andere unwichtig zu werden.
Jede Kleinigkeit wird hinterfragt, jedes bizarr wirkende Detail, und davon gibt es viele bei Veranstaltungen dieser Größe, wird auf dessen Richtigkeit abgeklopft. Im Zweifel: ein Skandal"
Das mit den 90 Minuten kann man bei dieser WM ohnehin vergessen. Jede Kleinigkeit wird hinterfragt, jedes bizarr wirkende Detail, und davon gibt es viele bei Veranstaltungen dieser Größe, wird auf dessen Richtigkeit abgeklopft. Im Zweifel: ein Skandal. Man braucht Katar jetzt nicht schönreden, das Land hat viel dazu beigetragen, um so gesehen zu werden, wie es gesehen wird. Jeder tote oder dehydrierte Arbeiter auf einer WM-Baustelle ist einer zu viel; jeder Bewohner, der sich nicht so frei bewegen und zeigen kann, wie er es möchte, ist eine Schande. Aber nicht nur in Katar.
Moralische Ansprüche
Betritt man das Public-Viewing-Gelände, das etwas außerhalb der Stadt für die Gastarbeiter errichtet wurde, erkennt man trotzdem nicht nur Leid und Hoffnungslosigkeit, sondern auch Freude und Zuversicht. Tausende Menschen aus Indien, Pakistan oder Vietnam sind froh, im Zuge der WM einen Job und eine Chance in Katar bekommen zu haben. Das erklärt viel und entschuldigt dennoch nichts.
In den vergangenen Tagen ist in Katar aber ein neuer Wettkampf entstanden. Gewinner in der öffentlichen Wahrnehmung ist jenes (europäische) Land, das sich am schärfsten von dieser WM distanziert – ohne jedoch auf sie zu verzichten. Es gab beinahe mehr Botschaften und Symbole als Tore. Von einigen Stellen wurde sogar angeregt, die Spieler mögen doch auch bitte beim Torjubel politische Gesten einbauen. Wer so etwas ins Spiel bringt, kam selbst vermutlich nur sehr selten in den Genuss eines Torjubels.
All das kann dem Fußball auf lange Sicht nicht guttun, wenngleich das Spiel auch schon in der Vergangenheit relativ immun gewesen ist gegen Vereinnahmung und Wahnsinn jedweder Art.
Ein Erfolgsgeheimnis ist neben der globalen Allmacht des runden Leders sicher das Traditionsbewusstsein der durchwegs konservativen Regelhüter. Trotz einer fortschreitenden Verwissenschaftlichung wird an den Grundprinzipien – Spielfeldgröße, Mannschaftsstärke, Spielzeit – eisern festgehalten. Ob die Einführung des VAR, zuvor lange und ausführlich debattiert, den Fußball tatsächlich besser gemacht hat, ist unklarer denn je.
Aber das ist wohl die geringste Sorge, die die Verantwortlichen derzeit umtreiben sollte. Die TV-Quoten, für deren Rechte weltweit vier Milliarden Dollar an den Weltverband überwiesen wurden, sind bisher vor allem in Europa ausbaufähig. Ist das alles den Umständen – Katar, FIFA, Winter – geschuldet? Oder verschiebt sich da gerade etwas?
„Es muss Leute geben, die ein bisschen Glaubwürdigkeit im Fußball verteidigen. Wenn es die nicht mehr gibt, wird er sterben“, hatte Dani Alves der Süddeutschen Zeitung gesagt. Für den 39-jährigen Ballkünstler aus Brasilien ist Katar die letzte Weltmeisterschaft. Für wen noch?
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