Als Jan Nepomnjaschtschi in der vierten Schnellschachpartie des WM-Tiebreaks klar wurde, dass er verlieren würde, sah man seine Finger zittern. Versehentlich warf er ein paar Figuren vom Tisch – und gab Momente später auf. Und was tat Ding Liren, der soeben Weltmeister geworden war? Er legte den Kopf in die linke Hand, atmete tief durch, zerdrückte ein paar Tränen und blieb noch eine knappe Minute lang still so sitzen.
Es ist ein ungewöhnlicher Weltmeister, der seit Sonntag die Schach-Welt regiert. Kein großmäuliges Genie, kein junger Wilder – sondern ein zurückhaltender Mann, der über seine Gefühle spricht – in einem Spiel, in dem man möglichst wenig Einblick ins eigene Innere geben möchte. Zu Beginn der WM gab er zu, dass er sich nicht gut konzentrieren könne: Der Druck mache ihm zu schaffen, aber auch seine während der Corona-Pandemie zerbrochene Beziehung. Es gehe ihm einfach nicht gut.
Das Herz nicht in der Hose
Jetzt geht es ihm vermutlich eine große Spur besser. Den WM-Titel, den er seinen Freunden, seiner Mama und seinem Opa widmete, hat er sich verdient, indem er in der entscheidenden Partie wieder einmal überraschte: Als das Spiel auf ein Remis zuzulaufen schien und ein Finale mit Blitzpartien drohte, tat der Defensivkünstler alles, um noch gewinnen zu können und stellte auf ein Damenschach Nepomnjaschtschis seinen Turm vor den König – eine Selbstfesselung, die man sonst tunlichst vermeidet und die ihm die Kommentatoren der Live-Streams nicht zutrauten.
Das Wagnis ging auf und brachte Ding die höchsten Weihen ein: „Eine unsterbliche Selbstfesselung. Gratuliere, Ding!!“, twitterte niemand Geringerer als Magnus Carlsen.
Ich habe 26 Jahre damit verbracht, zu spielen, zu analysieren und zu versuchen, meine Schachfähigkeiten auf viele verschiedene Arten zu verbessern. Ich glaube, ich habe alles getan.
Manchmal dachte ich, ich wäre schachsüchtig, weil ich manchmal ohne Turniere nicht so glücklich war. Manchmal hatte ich Mühe, andere Hobbys zu finden, die mich glücklich machen. Dieses Match spiegelt die Tiefe meiner Seele wider.
von Ding Liren
nach dem Gewinn des WM-Titels
Ein Treppenwitz der Geschichte
Nur weil der Norweger seinen Titel nicht verteidigen wollte, war Ding als Zweiter des Kandidatenturniers überhaupt ins WM-Finale aufgerückt, für das sonst nur Nepomnjaschtschi gesetzt gewesen wäre. Noch besser: In dieses Kandidatenturnier kam Ding ebenfalls nur als Nachrücker, weil ein gewisser Sergej Karjakin ausgeladen worden war: Der Russe hatte Putins Überfall auf die Ukraine unterstützt und die Kriegsopfer verhöhnt. So vereitelte ein Putin-Fan einen möglichen Prestigeerfolg für Russland. Wobei man Nepomnjaschtschi ohnehin hätte vereinnahmen müssen, hat dieser den Krieg doch verurteilt.
Herkunft
Ding Liren, geboren am 24. Oktober 1992, stammt aus Wenzhou in Südostchina. Mit vier Jahren erlernte er das Schachspielen, nachdem er seinem Opa dabei zugesehen hatte. Nur ein Jahr später gewann er die U-6-Landesmeisterschaft. Seine Eltern sind beide Universitätsprofessoren, er selbst studierte Jus. Ding ist Nr. 3 der Welt
17 Weltmeister
gibt es seit 1886. Neun waren Russen oder UdSSR-Bürger. Ding kassiert für den Titel 1,2 Mio. Euro
Für „Nepo“ ist die Pleite doppelt bitter, war er doch schon 2021 im Finale an Carlsen gescheitert. Für China wiederum musste der Erfolg irgendwann kommen: Während das Land bei den Frauen seit 1991 die meisten Weltmeisterinnen stellt, ist es inzwischen auch in der allgemeinen Weltrangliste mit acht Spielern unter den Top 100 eine Großmacht.
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