Warum die Schach-Weltmacht Russland unter Zugzwang ist

Ding Liren (li.) könnte erster Weltmeister aus China werden. Der Druck liegt aber beim Russen Jan Nepomnjaschtschi, der unter Flagge des Weltschachbundes FIDE spielt
Schon einmal verzichtete ein aktueller Schach-Weltmeister auf eine Titelverteidigung: Nach dem „Match des Jahrhunderts“, einem Stellvertreterduell USA gegen UdSSR, trat Sieger Bobby Fischer gegen Boris Spasski nicht wieder an. Der Unterschied zur aktuellen Situation: Fischer zog sich aus dem Schachsport komplett zurück und bestritt fast 20 Jahre lang keine offizielle Partie mehr.
Der Norweger Magnus Carlsen ist aktueller Weltmeister, Nummer 1 der Weltrangliste und unumstrittener Superstar seines Metiers. Er ist aktiv wie eh und je, nimmt an Turnieren teil, streamt Online-Partien und bleibt Weltmeister im Schnell- und Blitzschach. Für einen sechsten Titelkampf im Spiel mit klassischer Bedenkzeit aber fehle ihm derzeit einfach die Motivation, ließ der 32-Jährige wissen. Zudem sprach er sich im Februar offen für eine Verbannung russischer Spieler von den Schachbrettern aus. Mit dem Fortschreiten des Krieges gegen die Ukraine fühle es sich „immer seltsamer an, gegen Russen zu spielen“.
PerFIDE
Carlsens Worte haben Gewicht und wurden auch beim Internationalen Schachverband FIDE registriert. Diese hatte zwar nach dem militärischen Überfall russische Spieler nur noch unter FIDE-Flagge spielen lassen, russische Nationalmannschaften von Bewerben ausgeschlossen und Turniere in Russland abgesagt – aber sie befindet sich im Zwiespalt, wird sie doch von einem Russen geführt: FIDE-Präsident Arkadi Dworkowitsch sitzt gemeinsam mit Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Putin-Sprecher Dmitri Peskow im Aufsichtsrat des russischen Schachverbands. Der 51-Jährige war unter Dmitri Medwedew Präsidenten-Berater und sogar einer der stellvertretenden Ministerpräsidenten Russlands. Nach der FIDE-Entscheidung wird Dworkowitsch in seiner Heimat, wo Schach Prestigesache und hochpolitisch ist, als Verräter angefeindet.
Spasski vs. Fischer, 1972
Titelverteidiger Boris Spasski (UdSSR, li.) und Herausforderer Bobby Fischer (USA) liefern einander in Reykjavik ein Duell, das die Welt elektrisiert und als „Match des Jahrhunderts“ in die Geschichte eingeht. Der Kampf ist ein Stellvertreterduell zweier verfeindeter politischer Systeme mitten im Kalten Krieg. Mehrmals droht der eigenwillige Amerikaner, abzutreten, letztlich ringt der 29-Jährige in 21 Partien den 35-jährigen Sowjetrussen nieder. Seinen Titel verteidigt er aber nie. 1992 spielen die beiden eine „Revanche“.
Karpow vs. Kortschnoi, 1978
Der Leningrader Viktor Kortschnoi (re.) ist ein Kritiker des Sowjetsystems und flieht 1976 in den Westen. Zwei Jahre später fordert er im WM-Finale auf den Philippinen ausgerechnet Anatoli Karpow – jenen Mann, dem er vorwirft, ein „Bannerträger der Sowjet-Reaktion“ zu sein. Eine Niederlage von Karpow wäre auch für die UdSSR eine Katastrophe. Karpow engagiert einen Parapsychologen, der sich in die Zuschauerreihen setzt und seinen Gegner hypnotisieren soll. Kortschnoi vertraut einem indischen Guru – und verliert.
Karpow vs. Kasparow, 1984
Anatoli Karpow (33, re.) ist der König der Schachwelt und vom Regime in der UdSSR geliebt. Garri Kasparow (21) ist heißblütig und kontrovers. Karpow geht 4:0 in Führung, dann zermürbt ihn Kasparow mit 17 (!) Remis in Folge. Nach der 48. Partie wird beim Stand von 5:3 abgebrochen, offiziell aus Sorge um die Gesundheit der Spieler. Dem angeschlagenen Karpow hilft die Pause nicht, Kasparow siegt im Wiederholungskampf. Die Wachablöse ist ein Spiegel der Weltpolitik, in der die UdSSR ihrem Ende entgegentaumelt.
Kasparow vs. Deep Blue, 1996
In den 1980ern behauptet Garri Kasparow, niemals von einem Computer besiegt zu werden. 1989 schlägt er den von IBM konstruierten Deep Thought. 1996 spielt er unter Wettkampfbedingungen gegen Deep Blue von IBM – und verliert prompt die erste Partie. Es ist der Premierensieg einer Maschine gegen den amtierenden Weltmeister und ein Meilenstein in der Computertechnologie.
Polgar vs. Kasparow, 2002
Die 1976 geborene Judit Polgar (li.) spielt ein Vierteljahrhundert lang in der Weltspitze mit, 2005 rangiert sie auf Rang 8 der Rangliste. Einer ihrer zahlreichen Erfolge sticht hervor: 2002 schlägt sie im prestigeträchtigen Match „Russland gegen den Rest der Welt“ Kasparow. Auch wenn es sich dabei um eine Schnellschachpartie handelt, ist es das erste Mal, dass eine Frau die Nummer 1 der Männer besiegt.
Auch finanziell tun sich politisch heikle Verstrickungen auf. Dass das WM-Match mit seinen zwei Millionen Euro Preisgeld in Kasachstan stattfindet, liegt nicht zuletzt am „General Partner“ der FIDE, der Freedom Holding Corp. Der Finanzdienstleister wurde vom gebürtigen Moskowiter Timur Turlow 2008 gegründet, um Russen Zugang zu westlichen Finanzmärkten zu verschaffen. Der 35-jährige Milliardär ist mittlerweile Kasache, seit Kurzem Präsident des kasachischen Schachverbands – und er wurde von der Ukraine mit Sanktionen belegt, weil seine geschäftlichen Aktivitäten Kiew zufolge den russischen Angriffskrieg unterstützen.
Russland ist die größte Schachnation der Welt, die besten russischen Spieler haben Heldenstatus und werden teils massiv vom Staat unterstützt. Nicht alle von ihnen sind kremlkritisch eingestellt. Ex-Weltmeister Anatoli Karpow gehört der Putin-Partei „Einiges Russland“ an. Für internationale Spiele gesperrt wurde Putin-Fan Sergei Karjakin wegen Kriegsverherrlichung; ebenso nicht antreten darf Großmeister Sergei Schipow, der in Kommentaren den Krieg verteidigt hat.
Natürlich gibt es auch Putin-Kritiker, 44 russische Großmeister verurteilten in einem offenen Brief den Krieg. Und als am 24. Februar 2022 Russland die Ukraine angriff, schrieb Jan Nepomnjaschtschi auf Twitter: „Der heutige Tag ist der schwärzeste von allen.“ Nepomnjaschtschi, der wegen seines komplizierten Namens „Nepo“ genannt wird, war im Dezember 2021 im WM-Kampf noch krachend an Carlsen gescheitert. Nun kämpft er in Astana um die Krone gegen Ding Liren, der die Chance hat, erster Schachweltmeister aus China zu werden. Am Samstag gewann er und ging 3:2 in Führung.
Die WM ist ein Duell zweier Supermächte, in dem die politisch Verbündeten einander nichts schenken. Nur 24 Stunden vor der ersten Partie verließ Ding Liren das prachtvolle Wettkampfhotel und zog in eine einfachere Unterkunft. Er fühle sich nicht wohl in diesem Luxus, sagte der 30-Jährige. Das passe nicht zu ihm. Vermutlich ist der Umzug aber den vielen Russen geschuldet, die im offiziellen Hotel ständig über die Gänge huschen. Über den ersten Zug der ersten Partie dachte er lange nach. Er habe sich nicht vorbereitet, sagte er nach dem Remis. Kann das stimmen?
Der größere Druck liegt jedenfalls bei Nepomnjaschtschi. Immer wieder wird er in Interviews auch mit politischen Fragen konfrontiert. Er sagt dann (etwa im Interview mit der Süddeutschen Zeitung) Dinge wie „Leider kann ich nicht unter der russischen Flagge spielen“ und „Ein WM-Titel würde meine Landsleute in einer ziemlich schwierigen Zeit erfreuen“.
Brisantere Aussagen gelangen jedoch nicht an die Öffentlichkeit, das verhindert sein Management. Es gebe Vereinbarungen mit der FIDE, heißt es. Nepomnjaschtschi sei dazu verpflichtet, sich während der ersten WM-Tage nicht über Politik zu äußern. – Flagge hin oder her, seinen Sieg würde das offizielle Russland für sich beanspruchen.
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