Nepomnjaschtschi wiederum laboriert an seiner alten Schwäche, zieht teilweise zu schnell, bevor er den letzten prüfenden Blick tut, und bringt sich so um die Früchte seiner Arbeit. Dazu kommt die Frage, wie weit ihn als Russen die politische Situation belastet, hat er sich doch nach dem Überfall auf die Ukraine gegen den Krieg ausgesprochen.
Die vielen Fehler führen zu vielen entschiedenen Partien, es gibt nur wenige langweilige Remis, also Unentschieden. Man muss in der Geschichte der unumstrittenen Schachweltmeisterschaften schon bis zum Jahr 1981 zurückblättern, bis man 6 entschiedene Partien in 13 Matches findet – Anatoli Karpow vs. Viktor Kortschnoi, das war freilich noch eine ganz andere Welt.
Von daheim aus schaut es leicht aus
Vor allem die Digitalisierung lässt heute das Schachspiel einfach aussehen und die Fehler der beiden aktuellen Gegner noch viel erschreckender: Vor dem Livestream sitzend – anstatt wie einst, Tage später, mit einer Zeitschrift in der Hand – verrät einem ein mitlaufendes Schachprogramm sofort, wenn jemand auf Gewinn steht. Selbst wenn dieser Gewinn noch 15, 20 Züge entfernt und für einen Menschen, der gerade in einem WM-Kampf steckt, kaum auszurechnen ist. Es ist, als rate man bei der Millionenshow zu Hause vor dem Fernseher mit, wenn man nebenbei auch noch Google zur Verfügung hat – da ist man dann selbst verblüffend erfolgreich, und die Kandidaten sehen vermeintlich schlecht aus. Die digitalen Hilfsmittel waren zwar vor zehn Jahren auch schon da, aber in dieser Zeitspanne dominierte Magnus Carlsen die Szene, der tatsächlich kaum Fehler machte.
Dragnev, der am Wochenende in der Deutschen Schach-Bundesliga für Bayern München spielt, hält den Livestream-Kommentatoren allerdings zugute, dass sie die Schwierigkeit der Situation ganz gut vermitteln und auch keinen Hehl daraus machen, wenn sie mit den eindeutigen Computer-Bewertungen überfordert sind. Er selbst verfolgt das WM-Match auch nicht immer live und eher selektiv: „Man muss nicht jeden Zug unter die Lupe nehmen.“ Schachrevolution gebe es hier keine zu sehen, und das Interesse sei ohne den Titelverteidiger Magnus Carlsen doch geringer.
Schach boomt weiterhin
„Ich merke den Schach-Boom im Alltag“, erzählt Dragnev, der heuer sensationell Platz zehn bei der Europameisterschaft belegte und dort Ex-FIDE-Weltmeister Ruslan Ponomarjow besiegte: „Ich sehe die Menschen in der U-Bahn Schach am Handy spielen oder Videos ansehen. Aber mit Carlsen wäre wohl noch mehr Interesse an der WM da.“
Ist das denn überhaupt ein würdiges Match in Astana, ohne den 32-jährigen Norweger? „Auf jeden Fall. Wir haben zwei Top-Kandidaten, und außer Carlsen ist niemand stärker als die beiden. Manche schieben ihm die Verantwortung zu, er hätte den Titel verteidigen müssen. Aber er ist auch ein Mensch, der ein Recht hat, sein Leben und seine Freizeit zu gestalten, wie er will und wie er es sich leisten kann. Ich würde ihn gerne spielen sehen, aber ich würde ihm keinen Vorwurf machen, dass er es nicht tut. Und Ding und Nepo können auch nichts dafür, dass er es nicht tut“, erklärt Dragnev, der heuer sensationell Platz 10 bei der Europameisterschaft belegte und dabei u. a. Ex-FIDE-Weltmeister Ruslan Ponomarjow besiegte.
Wer gewinnt?
Wie man das Niveau der Weltmeisterschaft beurteilt, hängt also stark davon ab, womit man sie vergleicht. Den Anspruch an nahezu perfektes Schach erfüllt sie nicht. Jenen an gute Unterhaltung dafür umso besser. Carlsen selbst hat sich übrigens bisher nicht zum WM-Verlauf geäußert, er hält sich während des Wettkampfs nobel zurück. Dragnev hofft freilich, dass er später noch kommentieren wird.
Wer ist nun aber Favorit für das Finale? Dragnev legt sich hier nicht fest: „Es ist ein sehr ausgewogenes Kräfteverhältnis, auch im Schnellschach. Ding wird mit der Situation glücklicher sein, nachdem er in der 12. Partie schon vor dem Aus stand. Einem Menschen fällt es im Gegensatz zum Computer schwer, die Vergangenheit außer Acht zu lassen. Schach ist ein sehr psychologisches Spiel, das könnte einen leichten Vorteil für Ding geben. Nepo muss jetzt noch stärker sein. Es ist schon eine Herausforderung für ihn.“
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