Schüssel und Edtstadler: "Gäbe es die EU nicht, müssten wir sie jetzt gründen"
Im KURIER-Stadtstudio trafen sich Ex-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel und Europaministerin Karoline Edtstadler, beide ÖVP, zu einem Gespräch über Impf-Frust, Grünen Pass und die Zukunft der EU (Sonntag, 9.5., um 9.30 Uhr auf schauTV und kurier.at; Wiederholung um 11.30 Uhr).
KURIER: Wird der Frust der Österreicher auf die EU wegen des so langsam angelaufenen Impfens irgendwann verrauchen? Oder wird es der EU nachhaltig schaden?
Karoline Edtstadler: Wir werden nicht vergessen, was wir in den vergangenen fast eineinhalb Jahren erlebt haben. Und es ist richtig, nicht zu vergessen, sondern im Gegenteil die Lehren daraus zu ziehen, wie wir in Zukunft besser gerüstet sein können für Pandemien oder andere Herausforderungen.
Das ist auch der Grund, warum ich schon vor der Corona-Krise dafür eingetreten bin, dass wir die Zukunftskonferenz, also den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam erarbeiten: Was soll die Europäische Union in Zukunft können, was muss sie leisten? Und was regelt man besser in den Staaten?
Wird sich der Grüne Pass EU-weit bis zum Sommer ausgehen oder werden die Österreicher grantig sein, weil er zu spät kommt?
Edtstadler: Auf europäischer Ebene sind wir in der Zeit. Der Plan ist, dass bis Ende Juni der Grüne Pass steht.
Herr Schüssel, die Österreicher sind in den vergangenen Jahren skeptischer gegenüber der EU geworden? Zurecht?
Wolfgang Schüssel: Eigentlich ist das Verhältnis der Österreicher zur Europäischen Union relativ stabil, immer positiv, manchmal gab es ein Auf und Ab. Das heißt nicht, dass man unkritisch alles bejubelt, was von Brüssel entschieden wurde.
Manches kann besser sein, das ist klar. Aber gerade die Pandemie zeigt uns doch: Es ist wesentlich besser, wenn man zusammenarbeitet. Wo wären wir Österreicher – ein mittleres Land mit neun Millionen Einwohnern, wenn wir nicht in diesem Verbund zusammen entschieden hätten, dass wir eine Europäische Zulassungsbehörde für Arzneimittel haben?
Ich war selber noch als Bundeskanzler dafür zuständig, dass wir die Europäische Medizin Agentur (EMA) aufgewertet haben zur gesamteuropäischen Zulassung. Früher gab es 20 oder 28 Zulassungsbehörden. Wer weiß, wann wir mit Impfstoffen dran gekommen wären? Da sieht man doch, wie wichtig dieses Europa ist. Gäbe es die Union nicht, müssten wir sie gerade jetzt gründen.
Wolfgang Schüssel und Karoline Edtstadler zu Gast im Checkpoint bei Ingrid Steiner
Aber Israel, die USA oder Großbritannien waren doch viel schneller...
Schüssel: Welches Land hat es besser gemacht als die Europäische Union? Die Amerikaner mit über einer halben Million Toten? Die Inder? Die Chinesen? Der Buhmann bei den Zahlen. Man sollte große Fragezeichen machen.
Was haben wir also gelernt?
Schüssel: Dass wir uns auf die eigenen Füße stellen müssen. Wir müssen einfach die Pharma-Produktion so weit bei uns behalten, damit wir in einer Krise handlungsfähig bleiben. Das gleiche gilt für Masken, für medizinische Kleidung, für Beatmungsgeräte.
Europa als Friedensprojekt: Am 8. Mai 1945 kapitulierte die deutsche Wehrmacht, der Zweite Weltkrieg war zu Ende. Fünf Jahre und einen Tag danach, am 9. Mai 1950, plädierte Frankreichs Außenminister Robert Schuman dafür, eine Produktionsgemeinschaft für Kohle und Stahl zu schaffen – ein Grundstein für die spätere Europäische Union. Seit 35 Jahren wird der Europatag nun am 9. Mai gefeiert.
Digitaler Bürgerdialog: Heute wird offiziell die Konferenz zur Zukunft Europas eröffnet. Dabei können alle EU-Bürger unter anderem ihre Ideen und Reformvorschläge auf einer digitalen Plattform der EU einbringen: futureu.europa.eu
Frau Ministerin, was muss sich ändern?
Edtstadler: Wir müssen über die Zukunft reden und dabei kritisch sein. Wir haben uns in Österreich vorgenommen, Tempomacher in der EU zu sein. Manchmal wirft man dabei unbequeme Fragen auf. Es braucht vielleicht Vertragsänderungen; es braucht vielleicht eine stärkere Betonung der Subsidiarität – also, dass man die Dinge, die man nur gemeinsam lösen kann, im Großen macht, aber andere in den Mitgliedsstaaten belässt und sich nicht dem Diktat Brüssels unterwirft.
Und wir brauchen jetzt wirklich die Bereitschaft, in der europäischen Außenpolitik mit einer Stimme zu sprechen. Wir sind in dieser Hinsicht noch nicht auf gleicher Augenhöhe mit den USA und China.
Herr Schüssel, Sie kennen das innere Machtgefüge Brüssels bestens. Ist es für Österreich nicht gefährlich, in der EU-Außenpolitik das Prinzip der Einstimmigkeit aufzugeben? Ein kleines Land wie wir kann leicht überrollt werden.
Schüssel: Einspruch! Österreich ist kein kleines Land. Wir sind ein mittleres Land mit neun Millionen Einwohnern; mit einer Wirtschaftskraft von über zwei Prozent der EU. Und wir sind in der Lage, Partner zu finden für gemeinsame Anliegen. Gerade mittlere und kleinere Länder können, wenn sie sich zusammen etwas vornehmen, sehr viel in den Institutionen bewegen. Alleine kann auch ein großes Land in der EU relativ wenig verändern.
Wo liegen für die EU besonders große Chancen?
Schüssel: Bei der Verstärkung des Binnenmarkts. Das ist für mich der stärkste Wachstumsmotor, den es überhaupt geben kann. Es gibt in Europa keinen gemeinsamen digitalen Markt, sondern nur 27 sehr unterschiedliche Normen. Würden wir das gemeinsam regeln, würden auch plötzlich europäische Champions entstehen, die weltweit mitspielen können.
Noch immer ist die Verkehrslage bei den Eisenbahnen und im Flugverkehr sehr disruptiv und nicht gemeinsam geordnet. Was glauben Sie, was man hier einerseits einsparen oder Wachstumsimpulse generieren könnte?
Wird der Wiederaufbaufonds; für den sich die EU erstmals groß gemeinsam verschulden wird, dabei eine entscheidende Rolle spielen?
Schüssel: Es ist ein gigantisches Wachstumsprogramm, wenn es richtig umgesetzt wird. In den nächsten Jahren werden 750 Milliarden Euro bewegt. Das ist das achtfache Volumen des seinerzeitigen Marshallplans nach dem Zweiten Weltkrieg. So könnte etwa Griechenland das Kalifornien von Europa werden: Die haben Küste, die haben Sonne, die haben Wind. Oder Italien könnte etwa die universitäre Landschaft, die es in Kalifornien gibt, genauso hochziehen. Wir könnten genauso wie Dänemark ein Vorzeigeland in der erneuerbaren Technik sein. Da gibt es unglaubliche Möglichkeiten.
Wir könnten ....
Schüssel: Was mich aufregt ist, dass wir in Europa zur Verzwergung neigen. Wir machen uns immer kleiner als wir sind. Wir sind, was auch immer der Maßstab ist, unter den Top Drei der Welt Amerika, China und Europa. An uns kommt keiner vorbei, wenn wir gemeinsam agieren.
Wie steht es um eine Union nicht nur als Handelsgroßmacht, sondern als ein sozialeres Europa? Eine Illusion?
Schüssel; Das steht sogar im Vertrag festgeschrieben. Dort findet man sehr, sehr viele Elemente, die die soziale Gerechtigkeit nachhaltig unterstützen. So sind ja jetzt im gesamten Raum der EU wesentliche Rechte der Arbeitnehmer, der Freizügigkeit, der Berufsausbildung, des Schutzes vorgesehen, die es früher nicht gab. Das hat dazu geführt, dass etwa die Sozialsysteme in Ländern, wo die Lage sehr schlecht war, nachhaltig hochgefahren werden.
Zur Gerechtigkeit gehören natürlich noch mehrere Elemente: Nämlich, dass wir als Europäische Union die Einzigen sind, die wirklich den globalen Zusammenhang im Auge haben. Zwei Drittel aller Gelder für Entwicklungszusammenarbeit kommen aus der EU. Wir investieren und handeln so stark mit Afrika wie Amerikaner oder Chinesen zusammengenommen. Wir kümmern uns auch nicht nur um unsere eigenen Sozialstandards, sondern wir helfen auch durch ein Netzwerk von Handelsverträgen, in die auch Umwelt- und Sozialstandards eingebaut werden. Das machen die Amerikaner, die Chinesen und die Russen nicht.
Wir Europäer spielen hier eigentlich das Role model für viele Länder. Ein amerikanischer Philosoph hat einmal gesagt: „Für den amerikanischen Traum lohnt es sich zu sterben, aber für den europäischen Traum lohnt es sich zu leben.“ Und das ist eigentlich das schönste Argument, warum es diese Europäische Union gibt und warum wir, bei aller Kritik, die es immer gibt, für diese Union mit heißem Herzen kämpfen sollen.
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