Psychiater Haller: "Die Angst sollte ein treuer Wachhund sein“
Angst vor Ansteckung erzeugen ist erwünscht – so lässt sich das geleakte Protokoll einer Sitzung Anfang März mit Bundeskanzler Sebastian Kurz und dem Corona-Krisenstab zusammenfassen.
Und so kam es dann auch: Erst wurde die Öffentlichkeit auf viele Tote eingestimmt und allfälliger Widerstand gegen rigoroses Durchgreifen im Keim erstickt. Das hat dem Bundeskanzler eine Welle an Kritik eingebracht, nämlich mit der Angst und den Gefühlen der Bevölkerung zu spielen.
Aber wie kann man die Bürger von der Notwendigkeit der Maßnahmen überzeugen? Nur mit Aufklärung oder braucht es sogar die Angst? Der renommierte Psychiater Reinhard Haller analysiert, warum Angst zum Überleben notwendig ist und wie Corona unsere Gesellschaft vom Narzissmus heilt.
KURIER: Herr Haller, Bundeskanzler Sebastian Kurz wird derzeit kritisiert, mit Angstszenarien die Menschen gehorsam zu machen. Ist das aus der Sicht des Psychiaters nicht eine problematische Methode?
Reinhard Haller: Zunächst muss man beurteilen, zu welchem Zeitpunkt die Aussagen getätigt wurden. Selbst die Virologen und Epidemiologen haben unterschiedliche Diagnosen abgegeben: Die reichten von einer absolut tödlichen Seuche bis hin zu einer stärkeren Grippe. Da eine richtige Entscheidung zu treffen, ist extrem schwer. Für mich als Psychiater ist Angst nicht nur ein negativer Begriff. Eine gewisse Angst brauchen wir. Wenn der Mensch keine Angst hat, kann er nicht überleben. Angst soll ein treuer Wachhund sein, der anschlägt, wenn es gefährlich wird. Aber die Angst soll kein reißender Wolf sein, der die Seele auffrisst. Hier die richtige Gratwanderung mit Worten zu finden, ist das Problem. Die ideale Stimmung, die man als Politiker erzeugen müsste, liest sich so: extreme Vorsicht ja, Angst nein.
Ist die Gesellschaft nicht mündig genug, dass sie durch detaillierte Aufklärung über Corona vorsichtig wird? Braucht es da wirklich so drastische Worte, dass jeder Österreicher einen Corona-Toten kennen werde?
Die Mündigkeit trifft für den Großteil der Bevölkerung zu, aber eben nicht für alle. Das Problem sind in solchen Situation jene fünf bis maximal zehn Prozent, die eben nicht mündig genug sind. Der berühmte deutsche Psychiater Kurt Schneider († 1967) hat einmal gesagt: Die Gesetze, Vorschriften und das Strafgesetzbuch haben wir ohnehin nur für die Psychopaten geschrieben, nicht für die normalen Menschen. Psychopath war damals die Bezeichnung für Persönlichkeitsstörung. In einer solchen Seuchensituation können gerade einzelne uneinsichtige Bürger sehr viel anrichten. Dafür braucht man nur nach Ischgl zu schauen.
Viele Virologen prophezeien jetzt schon eine zweite Corona-Welle im Herbst. Lässt sich die Gesellschaft nochmals so diszipliniert wegsperren, wenn es bis dahin noch kein Medikament gibt?
So ein Virus ist ein Stück weit unkalkulierbar. Wenn man ganz ehrlich ist, dann weiß man nicht, wie sich das Virus entwickeln wird. Ich hoffe ja, dass es sich positiver entwickelt, als wir nun annehmen und vielleicht verschwindet. Denn ich glaube nicht, dass man ein zweites Mal einen Lockdown vollziehen kann, weil dann die Kollateralschäden für die Wirtschaft und das Individuum existenzbedrohend werden.
Der deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble meinte in einem Interview: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen. Das stimmt so in seiner Absolutheit nicht“. Wird die brisante Debatte, ob man tatsächlich jedes Leben retten muss, starten, sobald die erste Corona-Welle im Griff ist?
Das befürchte ich. Der Bürgermeister von Tübingen Boris Palmer (Grüne) hat es überspitzt dargestellt. Er meinte, dass wir in den Intensivstationen Menschen retten, die sechs Monate später ohnehin gestorben wären. Das ist eine bedenkliche Entwicklung. Diese Frage wird sogar schon in der Heiligen Schrift gestellt: Ob es nicht besser ist, dass ein Mann für das Volk sterbe, bevor das ganze Volk verderbe. Auf heute umgelegt, stehen wir vor der Debatte: Isoliert man die alten Menschen? Nimmt man ihnen viele Möglichkeiten im Leben, damit der Rest der Gesellschaft wie bisher weiterleben kann?
Mit welchen Veränderungen wird die ältere Generation möglicherweise leben müssen ?
Für die ältere Generation ist die Debatte gefährlich, weil ihr Leben als nicht mehr so wertvoll angesehen wird. Man spürt es bei der älteren Generation ja schon, dass sie sich nicht mehr in die Geschäfte traut und sich teilweise auf der Straße anpöbeln lassen muss. Auch weil die Gesünderen und Jüngeren die Arroganz haben, zu wissen, wie die Lebensqualität der Alten ist. Vor dieser Entwicklung graut mir ein Stück weit. Die Wertschätzung der Alten auf Grund ihres Wissens und ihrer Lebenserfahrung ist ohnehin in den vergangenen Jahren verloren gegangen. Denn Google und die Poster auf Facebook wissen ohnehin alles viel besser. Jetzt kommt die Stigmatisierung dazu, dass man die Lebensqualität wegen der Verwundbarkeit dieser Gruppe einschränken muss.
Viele Menschen entdecken derzeit, dass die Umwelt weniger belastet wird oder dass der Wert der Familie eine neue Bedeutung bekommt. Welche positiven Effekte ortet der Psychiater durch Corona?
Die Grundbedürfnisse und die Grundtriebe der Menschen werden nicht anders werden. Aber dass diese Zeit auch einen antinarzisstischen Effekt hat, ist unbestreitbar. Der Virus hat hier einiges zurecht gerückt.
Und zwar inwiefern?
Die Erkenntnis, dass das Wachstum nicht immer weiter gehen kann. Dass sich nicht immer alles noch schneller, noch hektischer, noch erfolgreicher drehen kann. Wir haben erkannt, dass unsere Bäume nicht in den Himmel wachsen. Es dreht sich nicht immer nur alles um „Ich, Icher und am Allerichsten“.
Sie arbeiten als Gerichtspsychiater mit Gewalttätern. Zu Beginn der Krise wurde vor einem Anstieg der häuslichen Gewalt gewarnt. Die Zahl der Anzeigen ist aber kaum mehr geworden. Wie erklären Sie dieses Paradoxon?
Meine Prognose war, dass die schweren Gewalttaten zurückgehen werden, aber die emotionale Gewalt im Laufe der Krise zunehmen wird. Das Verbrechen hat neue Formen bekommen. Es hat sich mehr ins Netz verlagert. Die Frauenmorde sind zurückgegangen, dafür haben die subtileren Formen zugenommen. Das sind oft keine strafrechtlich relevanten Tatbestände, da frisst man sehr viel in sich hinein, was wiederum zur Verstärkung der Depressivität und der psychosomatischen Leiden führt. Dieses Phänomen haben schon Tierexperimente mit Hühnern gezeigt: Je enger der Raum ist, in dem sie eingesperrt sind, desto mehr hacken sie aufeinander los. Bei den Menschen ist es nicht anders. Das führt zu psychischen Störungen, die nicht so spektakulär, aber dauerhafter sind.
Die Ausgangsbeschränkungen sind seit zwei Tagen beendet. Die Regierung warnt vor zu viel Übermut und fürchtet nichts mehr, als dass die Infektionszahlen wieder ansteigen. Wie werden die Menschen reagieren? Mit zu viel Lebenslust oder werden sie mit Vernunft die neue Freiheit genießen?
Diese Bedürfnis der Menschen nach Kommunikation und gemeinsamen Stunden mit Freunden hat mich, ehrlich gesagt, beruhigt. Denn in den vergangenen Jahren hat man befürchtet, dass die Kaffeehauskultur aussterben wird, weil sich alle in die virtuelle Internetwelt zurückziehen. Corona zeigt aber, dass die Menschen eine Gemeinschaft wollen und gerne am Wirtshaustisch sitzen. Man wird jetzt weiterhin die nötige Distanz halten. Aber wenn das Virus im Griff ist, dann werden die Menschen wieder näher zusammenrücken, als sie das derzeit dürfen.
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