Petritsch: "Eine unerträgliche und ignorante Position der SPÖ"
Die SPÖ will sich weder für, noch gegen eine Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij vor dem Nationalrat aussprechen. Sie verweist auf die Neutralität. Was SPÖ-Diplomat und Westbalkan-Experte Wolfgang Petritisch dazu sagt.
KURIER: Ist Europas Reaktion auf Russland in der jetzigen Schärfe richtig?
Wolfgang Petritsch: Ich glaube, man muss hier wirklich zu einer radikalen Position kommen. Nicht in Form einer emotionalen Hassreaktion auf Russland, sondern in Form einer Politik, die mit der Idee, dass auch Krieg Teil einer Außenpolitik ist, spielt. Das Friedensprojekt Europa kann offensichtlich nicht ohne militärisch defensive Überlegungen und wahrscheinlich auch EU-Armee auskommen. Das ist deprimierend, aber bringt uns zurück auf den Boden der Wirklichkeit.
Ist die militärische Neutralität Österreichs vor diesem Hintergrund hinfällig?
Der Kern einer Neutralitätspolitik ist nicht hinfällig. Das ist der Versuch, mit friedlichen, diplomatischen, politischen Mitteln einen Kompromiss durchzusetzen. Mit Putins Russland hat eine Atommacht einen konventionellen Krieg vom Zaun gebrochen. Wenn man das konsequent weiterdenkt, kommt man in eine nukleare Kriegssituation. Das gilt es unter allen Umständen zu verhindern, ohne dass man die Freiheitsbestrebungen und Wehrhaftigkeit der Ukraine beschädigt. Eine unglaubliche Herausforderung, die wahrscheinlich das europäische Projekt irreversibel verändern wird.
Muss das Friedensprojekt Europa nun einen gewissen Prozentsatz in Rüstung investieren?
Genau, und das ist natürlich ein großes Problem, weil wir in Europa seit 1945 viel stärker den Krieg als politisches Mittel verdrängt haben. Das ist eine Sache, die in praktisch allen EU-Staaten, inklusive den Großen wie Deutschland, einfach nicht vorhanden war. Für mich ist eigentlich die die große Wende, die in Berlin stattgefunden hat, das eigentlich Bemerkenswerte, gleichzeitig auch das Desillusionierende. Man hat sich eigentlich geirrt, dass es so etwas wie eine Partnerschaft zwischen zwei unterschiedlichen Systemen wie eben Putins Russland und der Europäischen Union geben kann.
Wie beurteilen Sie die sicherheitspolitische Positionierung der SPÖ?
Ich bedaure schon seit Jahren, dass es eigentlich keine außenpolitischen Positionen der SPÖ gibt. Ich komme natürlich aus einer Zeit, als Bruno Kreisky die österreichische Außenpolitik stark dominiert hat. Seine Einstellung, dass Außenpolitik für die Entwicklung der Gesellschaft und die Innenpolitik enorm bedeutend ist, ist der SPÖ abhandengekommen. Sich nur darauf zu verlassen, dass die EU oder die USA irgendwas machen, ist zu wenig.
Die SPÖ ist nicht dafür und nicht dagegen, dass Wolodimir Selenskij zum Parlament spricht. Sie verweist auf Österreich Neutralität. Verstehen Sie die schwammige Positionierung?
In Fragen von Werten, von Moral, vor allem wenn es um Krieg oder Frieden geht, gibt es keine Neutralität. Das zeigt auf, dass wir uns zu wenig mit den Inhalten einer neuen Neutralitätspolitik auseinandersetzen. Für eine staatstragende Partei wie die SPÖ ist es unerträglich, sich hier nicht klar zu positionieren. In Brüssel waren wir als EU-Abgeordnete auch dabei, als Selenskij aufgetreten ist. Also was soll das? Entweder so oder so. Das ist keine Position von Neutralität, das ist eigentlich eine ziemlich ignorante Position, die dringend und rasch geändert gehört.
Als Balkan-Experte: Wie bewerten Sie dort die Entwicklung nach dem Krieg?
Ich finde sie ernüchternd. 2000 habe ich mir in Bosnien als internationaler Zivilverwalter gedacht, dass 2014 ein gutes Jahr für einen EU-Beitritt Bosniens und die umliegenden Staaten wäre. Heute wissen wir, das liegt irgendwo in der Zukunft. Wir sagen, wir hätten sie gerne dabei. Die dort herrschenden, zutiefst korrupten Eliten sagen das auch, meinen es aber nicht. Wie sich die Ukraine jetzt wehrt, zeigt, dass es wichtig ist, Politiker mit einer europäischen Vision am Balkan an der Macht zu haben.
Hätten Sie es einen konventionell geführten Krieg in Europa im Jahr 2022 für möglich gehalten?
Überhaupt nicht, muss ich offen sagen. Und es hat in mir auch ein unglaubliches Déjà-vu ausgelöst, weil ich 1999 bis wenige Stunden vor Beginn der Bombardierung der NATO in Belgrad war und sogar als ich weggefahren bin, wenige Stunden vor der Bombardierung, dacht ich mir: Das gibt es doch nicht, Krieg mitten in Europa? Es war für mich unvorstellbar. Von diesem Gefühl ist jetzt nach über 20 Jahren ein bisschen was zurückgekommen.
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