Dem KURIER vorliegende Daten aus AMS und Hauptverband der Sozialversicherungsträger widersprechen diesem Befund. Während Ende Juli 2015 nur rund 3.500 Afghanen in Österreich beschäftigt waren, liegt dieser Wert heute bei 15.000. Im Vergleich zu Menschen aus Syrien gelingt die Integration offenbar ähnlich schnell. Geflüchtete kommen in bestehende Communities, die Hilfestellungen bieten. Und, auch wenn es paradox klingt: Niedrigere Qualifikation ist für viele Afghanen ein Vorteil, denn für eine Jobvermittlung in dem Bereich reicht schon ein Deutschniveau von B1 (Einfache Sprache). In einem 2018 für das Innenministerium erstellten Report des IHS heißt es, afghanische Männer absolvieren öfter eine Lehre und vermögen sich im Vergleich zu anderen Zuwanderungsgruppen relativ rasch beruflich zu integrieren.
Hat Österreich überproportional viele Afghanen aufgenommen?
Ja. Laut der EU-Datenbank Eurostat lebten – Stand 2020 – 42.190 Personen in Österreich, die in Afghanistan geboren wurden. Afghanen machen demnach rund 0,47 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Im internationalen Vergleich liegt Österreich damit hinter Schweden (0,57 Prozent) auf Platz zwei. Das Nachbarland Tadschikistan hat laut Schätzungen nur 6.500 Afghanen aufgenommen, Usbekistan 1.000.
Kommen aus Afghanistan wirklich nur junge Männer nach Österreich?
Laut Statistik Austria sind rund 66 Prozent der in Österreich lebenden Personen aus Afghanistan Männer. Die demografisch mit Abstand größte Gruppe sind Männer zwischen 15 und 29 Jahren. Diese Gruppe umfasst 14.300 Menschen und macht etwa 34 Prozent der in Österreich lebenden Afghaninnen und Afghanen aus.
Im „Puls24“-Sommergespräch hat Kanzler Kurz behauptet: 60 Prozent der Afghanen in Österreich würden ihre eigene Religion mit Gewalt verteidigen. Stimmt das?
Eine Studie für den Österreichischen Integrationsfonds von 2019 in Wien hat ergeben: Von jenen jungen Menschen mit muslimischer Prägung, die in Wien leben, äußern Afghanen die höchste Gewaltbereitschaft. 56 Prozent der befragten Afghanen stimmten etwa der Aussage „Wenn die Religion beleidigt wird, darf man durchaus zuschlagen“ zu.
EU-Innenkommissarin Ylva Johannson schlägt vor, vulnerable Gruppen wie Journalisten und Menschenrechtsaktivisten aus Afghanistan aufzunehmen. Widerspricht sie damit dem vereinbarten Wording der EU-Innenminister, wie Nehammer behauptet?
Es gebe kein vereinbartes Wording, sagt ein Sprecher der EU-Kommission dem KURIER. Die Innenminister und die Kommission hätten sich aber auf folgende Punkte verständigt: Die Hilfe vor Ort und für die Nachbarstaaten soll gestärkt werden, der Schutz der EU-Außengrenzen und der Kampf gegen illegale Migration ebenso. Außerdem hätten sich mehrere Staaten – etwa Deutschland und Frankreich – für eine Aufnahme von vulnerablen Gruppen und für Resettlement-Programme ausgesprochen.
Was passiert mit afghanischen Staatsbürgern, die aus Kabul ausgeflogen werden?
Deutschland fliegt derzeit afghanische Ortskräfte und ihre Familien aus, die den Sicherheitskräften vor Ort als Übersetzer, Wächter, Köche oder Fahrer geholfen haben. Dazu kommen Journalisten, Menschenrechtler und NGO-Mitarbeitende. Sie werden auf deutschen Flughäfen registriert, auf Corona getestet und in Erstaufnahmeeinrichtungen gebracht. Von dort werden sie auf die Bundesländer verteilt. Grundlage dafür ist der „Königsteiner Schlüssel“. Er legt fest, wie viele Asylbewerber ein Bundesland aufnimmt. Die Verteilung wird jährlich auf Basis von Steuereinnahmen und der Bevölkerungszahl berechnet. Als rechtliche Grundlage für die Aufnahme der Ortskräfte gilt § 22 des Aufenthaltsgesetzes: Einem Ausländer kann für die Aufnahme aus dem Ausland aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Diese gilt für drei Jahre und kann verlängert werden, wenn die Gründe weiter gegeben sind.
Nehammer schließt ein Rücknahme-Abkommen mit den Taliban zumindest nicht aus? Welche Implikationen hätte so ein Abkommen?
Rechtswissenschafter Walter Obwexer sagt im KURIER: „Wenn Österreich als Staat mit den Taliban ein Abkommen schließt, wäre das eine implizite Anerkennung der Taliban-Regierung. Völkerrechtliche Verträge kann ein Staat nämlich nur mit einem anderen Staat schließen.“ Aber selbst wenn Österreich demnächst im Alleingang eine Taliban-Regierung legitimieren würde, um nach Afghanistan abschieben zu können, müsste bei jedem Einzelfall sichergestellt werden, dass der abzuschiebenden Person unter einem Taliban-Regime keine Lebensgefahr oder unmenschliche Behandlung droht. Fazit: Abschiebungen nach Afghanistan bleiben vorerst wohl unrealistisch.
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