Androsch: "Mit Genderwörterbüchern wird man keine Wahlen gewinnen"
Im Vorfeld eines Neos-Events sprach Parteiobfrau Beate Meinl-Reisinger mit ihrem Ehrengast, Ex-SPÖ-Finanzminister Hannes Androsch, über zentrale Zukunftsthemen.
KURIER: Soll Österreich der NATO beitreten?
Beate Meinl-Reisinger: Russland ist auf absehbare Zeit kein verlässlicher Partner. Unser Anspruch war und ist eine europäische Souveränität in Sicherheits- und Verteidigungsfragen. Derzeit ist das aber nur in enger Kooperation mit der NATO realistisch. Doch Europa muss sich um die eigenen Angelegenheiten kümmern, sich strategisch autonom machen. Wir werden nicht immer nach der NATO rufen können.
Hannes Androsch: Die österreichische Neutralität, aus 1955, ist eine der Schweiz nachgebildete, bewaffnete, westorientierte. Wir sind aber längst nicht mehr bewaffnet, sondern sicherheitspolitisch Trittbrettfahrer der NATO. Dabei hätten wir durch den Lissabonner Vertrag von 2007 eine europäische Beistandsverpflichtung.
Es ist unklar, ob nicht die sogenannte „irische Klausel“ Österreichs militärische Beistandspflicht aufhebt.
Meinl-Reisinger: Ich halte es politisch gesehen für notwendig, dass die Verteidigungsministerin die irische Klausel für obsolet erklärt und sich zur Beistandspflicht bekennt. Solange Österreich gemischte Signale ausschickt, sind wir kein verlässlicher Partner und werden definiert, anstatt uns selbst zu definieren.
Androsch: Europa ist derzeit nicht selbstverteidigungsfähig. Es würde mir Kummer bereiten, wenn sich die Amerikaner auf Isolation zurückzögen, wie es Donald Trump anklingen ließ. Da bin ich lieber ein Vasall der Amerikaner, als dass wieder russische Stiefel in Floridsdorf zu finden wären. Das habe ich in meiner Jugend zur Genüge erlebt und will ich kein zweites Mal erleben. Die „irische Klausel“ haben wir durch Ergänzung unserer Verfassung aufgehoben.
Meinl-Reisinger: Wir werden als liberale Demokratie mit offener Gesellschaft westlicher Prägung doch bitte wissen, wem wir uns zuordnen: Einem autoritären Regime wie Russland oder den USA?
Warum ist dann ein Großteil der Bevölkerung für die Neutralität?
Meinl-Reisinger: Die Tragik in Österreich ist, dass es eine populistische Rechte gibt, die sich seit Jahren zum willfährigen Propaganda-Gehilfen Putins machen lässt. Auf der anderen Seite, der Herr Androsch möge mir das verzeihen, gibt es eine Linke, die antikapitalistisch und antiamerikanisch ist. Und wir haben eine feige Bundesregierung, die nicht in der Lage ist, Debatten zu führen.
Androsch: Auch mich irritieren der Antiamerikanismus und die wirtschaftliche Russland-Bezogenheit – siehe OMV oder manche Banken.
Themenwechsel: Laut der Regierung haben die Antiteuerungshilfen nichts damit zu tun, dass Österreichs Inflation über dem EU-Schnitt liegt. Einverstanden?
Meinl-Reisinger: Ich führe die deutlich höhere Kerninflation sehr wohl darauf zurück, dass die Bundesregierung in großem Ausmaß Geld für Hilfen und neue Förderungen ausgibt. Um die Kaufkraft zu stärken, hätte man die Lohnnebenkosten senken sollen. So schafft man Spielraum für höhere Einkommen, ohne eine Lohn-Preis-Spirale anzuheizen.
Androsch: Putins Versuch, Energie als Waffe einzusetzen, hat uns Angebotslücken beschert. Wie schon während der Ölkrise in den 70er-Jahren hätte auch jetzt gegolten: Eine Angebotslücke überwindet man nicht durch eine Steigerung der Nachfrage. Die Regierung verteilt aber Helikoptergeld in Konfettiparademanier.
Meinl-Reisinger: In Österreich geht es immer um parteipolitische Machtpolitik und Klientelismus. Wir können nicht alles Geld in Konsum stecken, sondern müssen zielgerichteter investieren. Wir geben mehr Geld für Bildung aus als Estland oder Finnland, haben aber schlechtere Ergebnisse.
Androsch: Es braucht eine Ausgabennotbremsung und eine Umschichtung von Konsum- in Zukunftsaufgaben. Wir müssen die Nabelbeschau im Minimundus Austriacus endlich überwinden und verstehen, wie wichtig Europa ist.
Wie wollen die Neos ihre vielen Zukunftsinvestitionen gegenfinanzieren?
Meinl-Reisinger: Derzeit wird nur jeder fünfte Euro in die Zukunft investiert. Uns galoppieren die Sozialausgaben, vor allem bei den Pensionen, davon. Alle sollen sich auf eine anständige Pension verlassen können, aber man wird länger arbeiten müssen. Wir brauchen eine Steigerung des Pensionsantrittsalters, wahrscheinlich reicht ein Monat pro Jahr. Wenn wir wie gehabt weitermachen, haben wir eine Schuldenquote von über 120 Prozent im Jahr 2060.
Androsch: Wenn Pensionisten weiterarbeiten wollen, gehört das attraktiviert, nicht bestraft. Das gilt auch für teilzeitbeschäftigte Frauen. Wenn sie in Vollzeit gehen, verlieren sie Begünstigungen wie den freien Kindergarten.
Herr Androsch, hätten Sie lieber Pamela Rendi-Wagner oder Hans Peter Doskozil als SPÖ-Spitze?
Androsch: Von der Tribüne mische ich mich in die Querelen der Aktiven nicht ein. Was ich aber als Sozialdemokrat in der vierten Generation sage: Das Land braucht dringend eine stark zukunftsorientierte Sozialdemokratie. Und dieses Ziel ist längst gefährdet.
Wie muss sich eine „zukunftsorientierte“ SPÖ positionieren?
Androsch: Mit Vulva-Partys oder Genderwörterbüchern wird man keine Wahlen gewinnen. Das sind nicht die Anliegen der Menschen, die außerhalb des Gürtels oder am Land wohnen. Im digitalen Zeitalter sind die Talente der wichtigste Rohstoff – und die muss man heben.
Meinl-Reisinger: Österreich muss aus seiner Kleingeistigkeit ausbrechen und sich anschauen, was andere Länder schaffen. Es ist ja keine Utopie, dass Schulen autonom entscheiden können, wie sie Schwerpunkte setzen und fächerübergreifend verschränken. Wo sind wir mittlerweile gut als Österreich? Wettbewerbsfähigkeit ist nicht gegeben, Steuerlast ist hoch, im Bildungsbereich hinken wir nach: Es ist ein Abfeiern des Mittelmaßes.
Unter Doskozil würde die SPÖ asylpolitisch nach rechts rücken. Steigt dann die Chance auf eine Ampel-Koalition mit Neos und Grünen?
Meinl-Reisinger: Die SPÖ muss jetzt einmal ihren Schlamassel lösen. Und Nehammer hat mit seiner Rede zwar den Wahlkampf eröffnet, aber wir haben immer noch keinen Wahltermin.
Und wenn die Neos in Asylfragen etwas nach rechts rücken?
Meinl-Reisinger: Wir haben in dieser Frage eine andere Haltung als 2015. Wir sehen die gesellschaftlichen Verwerfungen und die Notwendigkeit einer aktiven Integrationsarbeit. Ich habe im Herbst auch klar gesagt, dass ich es absolut inakzeptabel finde, dass Serbien mit Visa-Freiheit Leute einreisen lässt und Ungarn sie zu uns weiterwinkt.
Bundeskanzler Karl Nehammer hat in seiner „Zukunftsrede“ gemeint, er glaube nicht an eine Klima-Apokalypse. Wie sehen Sie das?
Meinl-Reisinger: Was Klimaschutz angeht, war Nehammers Rede ziemlich retro. Wenn das seine Vision für 2030 ist, finde ich es ziemlich abtörnend. Ich würde mir wünschen, dass auch Parteien in der Mitte den Kampf gegen die Erderwärmung entschlossener führen, mit Technologie und Innovation verbinden, und das Thema nicht der Linken überlassen.
Androsch: Ägypten, Indien oder Bali: Wir haben uns in Europa von schändlichen, imperialistischen Kolonialtaten plötzlich in einen eurozentrischen Moralistenstatus begeben, auf den in diesen Ländern keiner mehr hört.
Meinl-Reisinger: Deshalb müssen wir mit unseren Freunden und Verbündeten wieder Handelsabkommen schließen. Es ist geradezu grotesk, dass Österreich sagt, Mercosur (Handelsabkommen mit Südamerika, Anm.) brauchen wir nicht. Europa benötigt Partner, wir können nicht alles den Chinesen überlassen.
Androsch: Bei den Elektroautos oder Photovoltaik sind wir von China abhängig. Niemand kümmert sich um Fair Trade. Gleichzeitig gewinnen die Deutschen den Strom für E-Autos aus Kohlekraftwerken – und das soll dann Klimaschutz sein. Abstruser geht es einfach nicht.
Die politische Karriere von Beate Meinl-Reisinger startete bei der ÖVP – unter anderem im Kabinett der ehemaligen Staatssekretärin Christine Marek. 2012 wechselte die Juristin zu den liberalen Neos. 2015 war Meinl-Reisinger Neos-Spitzenkandidatin bei der Wiener Landtagswahl, bevor sie 2018 Matthias Strolz ablöste und mit 94,8 Prozent zur neuen Parteivorsitzenden der Neos gewählt wurde. Die Wiener Landespartei übernahm der heutige Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr von der dreifachen Mutter.
Hannes Androsch (SPÖ) war von 1970 bis 1981 Österreichs Finanzminister – in den letzten fünf Jahren zudem Vizekanzler unter Bruno Kreisky (SPÖ). Nach einer Debatte um Aufträge an seiner Steuerberatungskanzlei schied der heute 84-Jährige aus der Politik aus – und wurde erst Jahre später wegen Steuerhinterziehung verurteilt. 1989 startete Androsch eine erfolgreiche Karriere als Industrieller, unter anderem als Aufsichtsratsvorsitzender von AT&S, Salinen Austria und EUROPTEN.
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