Meinl-Reisinger: "Das ist eines Bundeskanzlers nicht würdig"
KURIER: Seit dieser Woche haben kleinere Geschäfte und die Baumärkte wieder geöffnet – ist die Zeit schon reif dafür?
Beate Meinl-Reisinger: Ich finde es richtig, dass man mit den kleinen Geschäften beginnt. Wir haben seit Beginn der Krise gesagt, dass es eine gesamthafte Betrachtung braucht. Es geht erst einmal um die Gesundheit, aber dann geht es um alles. Weder Wirtschaft noch Gesellschaft dürfen kollabieren.
Für Handel, Sport, Kultur und Gastronomie gibt es Stufenpläne, Sie haben gefordert, dass auch die Schulen im Mai wieder öffnen – was braucht es da?
Die Regierung hat das in Aussicht gestellt, aber ich vermisse Antworten auf wesentliche Fragen. Wir brauchen auch für die Bildung einen Stufenplan. Und es gibt nicht nur Null oder Eins: alles offen oder alles zu. Man kann regionale Unterschiede machen. Die Situation in Tirol ist eine andere als im Waldviertel. Man kann nach Alterskohorten unterscheiden, weniger intensiv in weniger fixen Klassenräumen arbeiten.
Eine Frage ist auch, wie die Schulen und Kindergärten jetzt ausgestattet werden. Gibt es Desinfektionsmittel, sollen die Kinder Masken tragen? Da braucht es rasch Klarheit. Die Pädagogen müssen sich darauf einstellen können.
Die Schüler hätten dann aber je nach Region oder Alter unterschiedliche Voraussetzungen. Wäre das nicht unfair?
Genau das muss man in den Griff bekommen. Es braucht für alle Schüler eine Perspektive für den Herbst. Die haben alle eine Leistung erbracht, strudeln sich mit Homeschooling ab – ein Fünftel der Schüler erreicht man so gar nicht.
Gerade jüngere Kinder brauchen soziale Kontakte wie die Luft zum Atmen.
Die Krise zeigt drastisch, welche strukturellen Defizite wir haben, zum Beispiel bei der Digitalisierung und den realen Chancen im Bildungssystem. Wir haben schon Vorschläge auf den Tisch gelegt und sind immer bereit, konstruktiv mitzuarbeiten.
Bildungswissenschaftler Stefan Hopmann sagt, wenn es nach ihm ginge, würden die Schulen vor dem Sommer gar nicht mehr öffnen.
Wir als Neos würden eine andere Entscheidung treffen. Aber wenn die Regierung das vorhat, dann soll sie den Mut haben, es zu sagen. Das schafft Klarheit. Dann muss man aber Alternativen anbieten, insbesondere für die jüngeren Kinder, denn die brauchen soziale Kontakte wie die Luft zum Atmen.
Das Unterrichtsangebot soll aber freiwillig sein?
Wir werden in dieser Phase niemanden zwingen können, in die Schule zu gehen. Es gibt Familien, wo Vater oder Mutter zur Risikogruppe gehören.
Prinzipiell haben die Schulen ja auch jetzt geöffnet...
Ja, die Regierung sagt, es sei „keine Schande“, die Kinder in die Schule zu schicken. Da schwingt mit: „Wenn ihr es sonst nicht auf die Reihe kriegt...“. Ich habe manchmal den Eindruck, die Regierung baut auf dem Familienbild der 1950er-Jahre auf. Wo es eh kein Problem ist, dass die Kinder zu Hause sind, weil die Mutter zu Hause ist und der Vater arbeiten geht. Das entspricht ja nicht der Realität.
Es darf jetzt nicht ein Backlash passieren. Ich finde es unerträglich, welcher Druck da auf Frauen aufgebaut wird.
Die vielen Alleinerzieherinnen oder Frauen, die berufstätig sind, werden überhaupt nicht mitbedacht. Man kann nicht einem Vollzeit-Job nachgehen und zwei oder drei Kinder im Homeschooling betreuen. Es darf jetzt nicht ein Backlash passieren, wo wir die Errungenschaften in der Gleichstellungspolitik einfach so aufgeben. Ich finde es unerträglich, welcher Druck da auf Frauen aufgebaut wird.
Es gibt viel Kritik, dass die Covid-Gesetze fehlerbehaftet und teils nicht verfassungskonform sein könnten. Warum haben die Neos da mitgestimmt?
Die Schlampigkeit betrifft die Erlässe und die Verordnungen des Gesundheitsministeriums. Wir haben die gesetzliche Grundlage dafür geschaffen, aber schon beim ersten Gesetz gesagt: Wir geben sehr viel Macht und Verantwortung in die Hände der Regierung und bitten darum, dass sie sehr sorgsam damit umgeht.
Das zweite ist, dass diese Eingriffe zum Teil so massiv sind, dass wir sie lieber im Hauptausschuss diskutiert und beschlossen hätten, damit das Parlament nicht völlig außen vor gelassen wird. Man ist uns offensichtlich in beiden Punkten nicht gefolgt. Aber gesagt haben wir es.
Das Argument von Kanzler Kurz ist, es habe schnell gehen müssen, die Maßnahmen seien notwendig gewesen, und er sei jetzt gegen "juristische Spitzfindigkeiten".
Ich habe großes Verständnis dafür, dass Fehler passieren können, wenn es schnell gehen muss. Ich habe aber kein Verständnis dafür, dass ein Bundeskanzler die Kritik an Eingriffen, die Grund- und Freiheitsrechte betreffen, als „Spitzfindigkeiten“ abtut, oder dazu aufruft, nachsichtig zu sein in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit und die Verfassung.
Vielen ist die Bedeutung von Kontrolle – gerade in Krisenzeiten – nicht bewusst. Es wird gleichgesetzt mit Kritik an den Maßnahmen an sich. Und das stimmt so überhaupt nicht.
Nein, das geht nicht, das ist eines Bundeskanzlers nicht würdig. Ein Minister und auch ein Bundeskanzler haben immer die Gesetze zu beachten und zu achten.
Haben Sie auch den Eindruck, dass man schnell als Querulant abgestempelt wird, wenn man in diese Richtung Kritik übt?
Vielen ist die Bedeutung von Kontrolle – gerade in Krisenzeiten – nicht bewusst. Es wird gleichgesetzt mit Kritik an den Maßnahmen an sich. Und das stimmt so überhaupt nicht. Wir waren die ersten, die gesagt haben, dass wir diesen Weg für richtig halten und mitstimmen.
Wir als Neos stellen uns schützend vor den Bürger vor einem übermächtigen Staat, der in der Krise Kompetenzen an sich reißt und sagt: Das muss halt sein. Gerade in Zeiten wie diesen zeigt sich die Bedeutung der Spielregeln, die es in einer Demokratie braucht.
Hinterfragen wir die Maßnahmen zu wenig, sind wir zu obrigkeitshörig?
Ich finde es gut, dass die Menschen sich an die Beschränkungen halten. Es braucht aber Klarheit, was genau erlaubt ist und was nicht. Ich habe den Eindruck, der Bundesregierung wäre es lieber, das ist nicht so klar. Dann kann man sagen, sie sollen überhaupt nicht mehr das Haus verlassen.
Ich halte die Menschen aber für mündig genug, zu wissen, dass man andere besuchen darf, es aber nur zu tun, wenn es unbedingt notwendig ist.
Das 6. Covid-Paket ist gerade in Arbeit. Kann Türkis-Grün auf die Stimmen der Neos hoffen?
Das kommt darauf an, was drinnen steht. Wir haben nächste Woche Plenarsitzung und noch nichts am Tisch. Wir haben aber vereinbart, dass nicht wieder alles in einem Paket kommt, wo wir entweder allem zustimmen oder alles ablehnen müssen. Es wird die Möglichkeit geben, zu differenzieren.
In Umfragen haben die Regierungsparteien in der Krise zugelegt, die Oppositionsparteien haben verloren – wie erklären Sie sich das?
Das kann ein Politikwissenschaftler besser erklären als ich. Das Phänomen ist durchaus üblich – wir sehen das auch bei Donald Trump oder Emmanuel Macron. Ich habe es mit Umfragen aber immer so gehalten: Abgerechnet wird am Wahltag.
Ist die Opposition so gesehen nicht ein undankbarer Job?
Die Aufgabe der Opposition ist in solchen Zeiten wichtiger denn je. Gerade jetzt braucht es Kontrolle – konstruktiv, aber kritisch.
Aber wird Ihnen das auch gedankt?
Ich stehe nicht in der Früh auf und frage mich, ob mir meine Arbeit gedankt wird. Ich frage mich, ist meine Arbeit gut, ist sie richtig und wichtig? Wenn ich das mit Ja beantworte, dann mache ich meine Arbeit – und ich mache sie mit Leidenschaft.
In Wien haben wir einen Wahltag – wie geht es Ihnen bei dem Gedanken, gerade jetzt einen Wahlkampf schlagen zu müssen?
Ich halte es für richtig, dass die Demokratie nicht in die Knie geht und Wahlen auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben werden. Es ist aber völlig klar, dass in solchen Zeiten die großen, finanzstarken Parteien einen Wettbewerbsvorteil haben. Wir werden nicht so viel Geld in Postwurfsendungen und Inserate investieren können wie die ÖVP, die SPÖ oder auch die Grünen. Wir werden uns innovative Wege überlegen müssen, wie wir den Kontakt zum Bürger aufrechterhalten können.
Wie sieht der Fahrplan für die Listenwahl aus?
Für die Bezirksvertretungswahlen haben wir schon die erste österreichweit digitale Mitgliederversammlung gemacht. Und es gibt jetzt einen Fahrplan der Wiener für die Erstellung. Der erste Schritt ist ein Votum der Wiener Bürger, das wird im Juli stattfinden. Dann gibt es einen Vorstandstermin am 24. Juli, und das Mitgliedervotum ist geplant für den 25. Juli.
Wird Christoph Wiederkehr in Wien Spitzenkandidat?
Davon gehe ich aus, meine Unterstützung hat er.
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