Kritische Infrastruktur gefährdet: Wer einspringen muss
Noch gibt es für dieses Phänomen keine fundierten Studien, nur anekdotische Berichte. Doch die häufen sich: Aus der berechtigten Angst, dass in Österreich aufgrund der hohen Zahl an Corona-Infizierten wichtige Dienstleistungen in Spitälern und Altenheimen, in Kindergärten und Schulen sowie bei den Behörden ausfallen könnten, werden derzeit Pensionisten sowie Menschen in Ausbildung als stille Reserve angeheuert.
Omikron macht erfinderisch
Der Brief, den Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer (ÖVP) an pensionierte Polizisten unterfertigt hat (siehe Faksimile unten), ist ein Beleg dafür: Höflich wird angefragt, ob sich die um ihre Unterstützung Gebetenen nicht vorstellen könnten, dem Land in einer schwierigen Situation ihre über Jahrzehnte angeeignete Erfahrung zur Verfügung zu stellen. Einige der derart Hofierten trauten ihren Augen nicht. Bisher, meint einer, wurde den älteren Kollegen die Erfahrung eher zum Vorwurf gemacht. Wertgeschätzt wurde sie hingegen nur selten.
Doch auch auf der anderen Seite des Arbeitsmarkts, bei den Jüngeren, werden Hände nicht nur abweisend, sondern auch einladend ausgestreckt. Menschen in Ausbildung oder ganz zu Beginn ihres Arbeitslebens werden in diesen Tagen zur bezahlten Mitarbeit eingeladen. Könnte es eventuell sein, dass aus der „Generation Praktikum“ als eine kollaterale Entwicklung der Corona-Zeit die „Generation Praktiker“ wird? Noch gibt es niemand, der diese Frage beantworten kann.
Eines zeigen die Recherchen aber: Egal ob Jüngere oder Ältere, werden Menschen zur Mitarbeit eingeladen, sind viele spontan und ohne Murren bereit, das, was sie sich angeeignet haben, auch unter viel schwierigeren Rahmenbedingungen zu investieren.
Die späte Wertschätzung als völlig neue Erfahrung
Wer mit freundlichen, reflektierten und erfahrenen Beamten zu tun haben will, der begibt sich in die Linzer Peuerbachstraße. Dort, in der Bezirkshauptmannschaft Urfahr-Umgebung, traten am vergangenen Montag die langjährigen Kollegen Horst Maureder und Reinhold Sellner ihren Dienst an.
Die beiden Oberösterreicher sind gerne einer Einladung des Landespolizeidirektors und des Landeshauptmanns gefolgt. Andreas Pilsl und Thomas Stelzer haben zum Jahreswechsel einen Brief an rund 700 Polizisten im Ruhestand geschickt, mit der ebenso höflichen wie dringlichen Bitte um aktive Unterstützung der durch Corona überlasteten Kontrollorgane von Polizei und Land.
Wörtlich heißt es in dem Schreiben: „Ihre Hilfe würde einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung dieser Krise leisten und vor allem auch Ihre aktiven Kolleginnen und Kollegen entlasten. Die großen Herausforderungen können wir nur gemeinsam bewältigen.“
Sechzig Angeschriebene haben sich spontan bei der Personalstelle des Landes OÖ gemeldet. Maureder und Sellner sind zwei von jenen 25, die schon im Einsatz sind. Seit Montag kontrollieren die an sich pensionierten Polizisten und nunmehrigen Vertragsbediensteten des Landes 2-G-Nachweise im Handel, unterstützen ihre ehemaligen Kollegen bei Schwerpunkt-Aktionen und prüfen auch, ob sich ungeimpfte Mitbürger an deren Lockdown-Vorgaben halten.
Die Erfahrungen nach ihrer ersten Arbeitswoche sind durchwegs positiv: „Die allermeisten Leute zeigen Verständnis und haben sehr freundlich auf uns reagiert“, sagt Horst Maureder. „Unsere Kontrollen werden auch als notwendig erachtet“, fügt Reinhold Sellner hinzu.
Der Dienst der Spätberufenen soll Ende Juni enden. Sie arbeiten laut ihres druckfrischen Kontrakts 39 Stunden pro Woche. Dafür erhalten sie ein monatliches Salär von knapp 2.000 Euro netto. Das Geld sei aber für sie kein Beweggrund.
Beide sind gestandene Wachebeamte i. R., beide aus Urfahr und Umgebung. Beide können auf schöne und sehr lange Karrieren im Polizeidienst zurückblicken. Beide sind verheiratet mit Frauen, die ihr Pensionsalter noch nicht erreicht haben. Beide haben einen Garten und daneben noch andere schöne Hobbys.
„Und, nein, es war uns bisher auch nicht fad in der Pension“, betont der eine, der gerne Golf und Tennis spielt sowie mit dem Rad und dem Motorrad durch die Lande pflügt. Und sein Kollege merkt an: „Es gibt zwei Gründe, warum ich mich gemeldet habe.“ Dann folgt ein Schlüsselsatz, der seinem ehemaligen Arbeitgeber und nicht nur diesem zu denken geben sollte: „Zum ersten Mal in meinem Leben schätzt jemand meine langjährige Erfahrung. Das tut schon gut. Da ist es auch eine Ehre, dass man hilft.“
Die beiden Polizisten im Dienste der Bezirkshauptmannschaft können gut mit Menschen. Der eine hat bei der Linzer Spurensicherung so einiges erlebt, der andere war viele Jahre lang ein leitender Beamter bei der Autobahnpolizei und hatte auf der A7 nicht nur mit netten, immer gleich einsichtigen Verkehrsteilnehmern zu tun.
Ihre Erfahrung und ihre Ruhe sollten auch bei den Corona-Einsätzen hilfreich sein. Ihre Autorität schöpfen die Beiden aus ihrer Ruhe: „Prävention ist immer besser als Eskalation.“ In einer derart angespannten Situation, in der Risse durch dieses Land gehen, sind Menschen wie sie doppelt gefragt.
Das weiß im Übrigen auch der Bezirkshauptmann von Urfahr-Umgebung, Paul Gruber. Der sagt dankbar: „Ich bin froh, dass sie sich gemeldet haben. Denn wir sind im Moment als Behörde echt am Limit.“ Uwe Mauch
„...selbstverständlich, dass ständig jemand da ist“
Eifrig diskutieren die Möchtegernmediziner und Freizeitvirologen. Über Lockerungen, Sinnhaftigkeit der Impfung, die Einordnung der täglich neuen Infektionszahlen. Experten und Politiker erklären die Notwendigkeit von Maßnahmen. Aber vor vollendeten Tatsachen steht in jedem Fall das Personal in den Krankenhäusern.
Seit Monaten wird nach Lösungen gesucht. Neben der Idee, pensionierte Pflegekräfte zu reaktivieren, sind auch junge Menschen gefragt, die sich noch in Ausbildung befinden.
Zwei Beispiele:
Eigentlich hatte sie schon einen Schlussstrich unter ihre berufliche Laufbahn gezogen. Nach vier Jahrzehnten als ausgebildete Pflegerin in der Anästhesie- und Intensivmedizin. Zuletzt war sie zehn Jahre lang auf der Internen Intensivstation des Pyhrn Eisenwurzen Klinikums Steyr tätig. Ein Beruf, eine Berufung, hoch sind psychische wie physische Anforderungen. Dann platzte Corona in den wohlverdienten Ruhestand. Der Notfall brach aus im ehemaligen Arbeitsbereich.
Düster ist eine solche Perspektive, naheliegend die Alternative, auf die reichhaltige Erfahrung früherer Mitarbeiter zurückzugreifen. Die Bitte um „dringende Hilfe“ ihres damaligen Stationschefs erreichte Eva Roob im September des Vorjahres. Kurz war die Entscheidungsphase, die 64-Jährige nahm das neue Vertragsangebot zu den branchenüblichen Bedingungen an. Das Geld war kein Motivator. „Ich habe diese Arbeit immer gerne gemacht. Die Kollegen sind dieselben wie noch vor neun Jahren und der Zusammenhalt ist unverändert super. Außerdem brauch’ ich das Adrenalin. Daran wird sich nie etwas ändern.“
Sie hat es wieder auf sich genommen, verpackt sich in schweißtreibende luft- und wasserdichte Schutzanzüge, trägt ständig und verpflichtend die FFP2-Maske – verschärfend die FFP3-Version bei direktem Patientenkontakt. Verdoppelt hat sich der Personalbedarf. Von „Sondereinsatzkollegen“ spricht Roob. Meint damit, wie wertvoll jene Mitarbeiter sind, die im dauernden „Hol- und Bringdienst“ für Medikamente und andere wichtigen Utensilien sorgen.
„Ich will nicht behaupten, dass wir schlecht verdienen. Aber es geht nicht nur um Bezahlung, sondern auch um Dienstzeiten und Arbeitsbedingungen, die immer belastender werden.“ Es müsse etwas verändert werden im System der medizinischen Betreuung. „Das wäre schon vor Corona-Zeiten notwendig gewesen. Aber im Denken der Menschen scheint es eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass im Krankenhaus sowieso ständig jemand für sie da ist.“
In die Dankbarkeit der meisten Patienten mische sich manchmal auch Unbelehrbarkeit, erzählt Roob. Sie muss nicht auf irgendwelche Weisheiten anderer und Gerüchte vertrauen. Ihre Tätigkeit liefert stetig eine sachlich nüchterne Bestandsaufnahme: „Trotz der hohen Zahl der Omikron-Ansteckungen haben die Todesfälle und schweren Verläufe nicht zugenommen.“ Es gebe zwar ein paar Ausnahmen, aber betroffen seien sehr oft Ungeimpfte.
Ob sie die ablehnende Haltung einiger Patienten nicht manchmal wütend mache? „Ich habe dafür zwar wenig Verständnis, aber für mich und meine Kolleginnen sind grundsätzlich alle Patienten gleich.“
Konfrontationen mit Impfgegnern und etwaige Aufläufe vor den Kliniktoren sind Eva Roob bisher erspart geblieben. „Wir hätten auch gar keine Zeit, um derartige Dinge mitzubekommen.“
Rückblickend habe sie nie bereut, diesen herausfordernden Beruf zu ergreifen. „Wäre ich jung, würde ich es wieder tun, aber ein Medizinstudium beginnen.“ Wie lange sie die Belastungen noch auf sich nimmt? Bis zu ihrem Geburtstag im März, sagt sie. „Da werd’ ich 65. Dann ist wirklich Schluss.“
Sarah Rumetshofer ist 22, im fünften Semester des Studienganges Gesundheits- und Krankenpflege an der FH Gesundheitsberufe OÖ, Med Campus VI. Als es das Virus im Vorjahr wieder einmal auf die Spitze trieb, die Kapazitäten zu sprengen drohte, boten sie und vier Kolleginnen ihre unterstützenden Dienste auf der Corona-Isolierstation für Lungenheilkunde an – ein Praktikum unter erschwerten Bedingungen.
Die in Aussicht gestellte Corona-Prämie ist nur ein Nebengeräusch. „Ich wollte einfach einen persönlichen Beitrag in dieser Krise leisten“, sagt Rumetshofer. Totaler Zusammenhalt, die ständige Bereitschaft des Stationspersonals, jeden Schritt zu erklären, seien die eigentliche Belohnung gewesen.
Auch Sarah Rumetshofer fällt in das oft gezeichnete typische Bild der überwiegend weiblichen Berufsgruppe, die mit ihrer Einsatzbereitschaft das medizinische System überhaupt am Leben erhält. Wertschätzung existiert, verebbt aber allzu oft als Lippenbekenntnis.
„Ich war zuerst in der HAK und hab’ nebenbei beim Roten Kreuz eine Sanitätsausbildung gemacht. Ich wusste schon, wohin mein Weg führt“, erzählt Rumetshofer. „Weil ich die ständige Herausforderung brauche“, will sie einmal auf einer Intensivstation arbeiten.
Herausfordernd, aber zum Ärgernis geworden, sei der Umstand, sich mit Impfskeptikern auseinandersetzen zu müssen. Diskussionen erspart sie sich mittlerweile. Es genüge zu sehen, wie schlecht es Covid-Patienten ergehen kann und wie sehr Familien leiden.
Die Praxis sparte nicht mit bleibenden Erinnerungen: „In einem meiner Dienste hat mir ein älterer, sehr netter Herr, der zu Beginn noch in einem guten Zustand war, erzählt, wie sehr er sich auf ein Wiedersehen mit seinen Enkelkindern freut.
Eine Woche später ist er verstorben.“ Und viel zu gedankenlos ist dahingesagt: Auch das gehört zu ihrem Beruf. Bernhard Hanisch
Plötzlich ist die Studentin für eine Klasse verantwortlich
Auch die Schulen rüsten sich für mögliche Personalausfälle – und das, obwohl es derzeit wenig Krankenstände gibt. Die Lücke sollen junge Menschen füllen, die noch Lehramt studieren, sowie Pensionistinnen und Pensionisten. Bildungsministerium und Bildungsdirektionen haben entsprechende Aufrufe versandt.
1.200 Studentinnen und Studenten haben sich darauf in ganz Österreich gemeldet. Wie viel es bei den pensionierten Lehrkräften sind, wissen nur die Bildungsdirektionen. In Wien stehen zum Beispiel 60 Personen bereit, wobei lediglich zwei beim Einsatzort flexibel sind.
Eine der Studentinnen, die eingesprungen sind, ist Beate Pühringer. Die 45-Jährige ist als Lehramtsstudentin eine „Spätberufene“ und war spontan bereit, zu helfen, „weil ja Not an der Frau ist“, wie sie sagt. Jetzt steht sie in einer oö. Volksschulklasse, deren Lehrerin schwanger wurde und deshalb bis zu den Semesterferien nicht in der Klasse unterrichtet.
„Das ist eine tolle Chance für mich, in den Job hineinzuschnuppern,“ sagt sie. „Wir haben zwar Schulpraxis – da ist immer jemand, der uns begleitet. Jetzt bin ich plötzlich alleine, und das ist doch etwas anderes.“ Besonders in Pandemiezeiten, wo Tests, Maskentragen und häufiges Lüften den Unterrichtsalltag erschweren.
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