Grabenwarter: "Ich habe gelernt, Gegenwind auszuhalten"
Christoph Grabenwarter ist seit 2020 Präsident des Verfassungsgerichtshofes.
KURIER: Ich habe Sie bei unserem Interview vor zwei Jahren gefragt, ob das Amt Sie als Mensch verändert. Und? Merken Sie schon was?
Christoph Grabenwarter: Ich glaube, diese zwei Jahre haben mit uns allen etwas gemacht – man ist bescheidener geworden. Ich habe gelernt, Gegenwind auszuhalten.
Wo war dieser am stärksten?
Bei einzelnen Covid-Entscheidungen. Wir waren Teil einer Debatte, die zu Demonstrationen geführt hat, und haben auch unangenehme Briefe bekommen.
Waren Sie auch erstaunt darüber, was im Lockdown verfassungsrechtlich alles möglich war? Dass man Menschen verbietet, aus dem Haus zu gehen?
Der Staat ist sehr plötzlich zum Schutz der Gesundheit und von Menschenleben eingeschritten. Die Schwere des Grundrechtseingriffs muss auch in solchen Fällen in einem angemessenen Verhältnis stehen zum Gewicht der Rechtsgüter, die der Staat schützen will. Wir alle haben das Epidemiegesetz, das ja sehr weitreichende Befugnisse hat, nicht wirklich im Blick gehabt, weil es nie zur Anwendung gekommen ist. Das war ein Lernprozess, auch beim Gesetzgeber.
Eine gewichtige Rolle hatte der VfGH auch beim U-Ausschuss. Das Erkenntnis von Ende 2020, dass die Justiz alles „abstrakt Relevante“ aus den Ibiza-Ermittlungen liefern muss, wurde so ausgelegt, dass es plötzlich eine Unmenge an Chats gibt, von denen nur ein kleiner Teil tatsächlich relevant ist. Geht der VfGH-Spruch zu weit?
Diese Feststellung aus der Zeit des Ibiza-U-Ausschusses hat für den nächsten U-Ausschuss eine andere Bedeutung gewonnen, weil der Untersuchungsgegenstand sehr weit formuliert ist.
Sie meinen, der nächste sollte enger gefasst sein?
Das ist dem Parlament überlassen. Ich sage nur: Je weiter, desto schwieriger ist es, Grenzen zu ziehen – für das Parlament, aber auch für den VfGH.
Viele meinen, die Formulierung „abstrakt relevant“ habe ein großes Tor geöffnet. Da schwingt natürlich Kritik am VfGH mit. Wie sehen Sie das?
Das nehme ich natürlich wahr. Kritik aus der Fachöffentlichkeit nimmt der VfGH auch in seine künftigen Entscheidungen auf. Ich schließe nicht aus, dass die eine oder andere Kritik bei den Kolleginnen und Kollegen zu einem Nachdenkprozess führt.
Würden Sie das heute auch noch so formulieren?
Das kann man nicht aus dem Kontext reißen. In der damaligen Situation war es für den VfGH in seiner Rolle als objektiver Schiedsrichter eine sinnvolle Formulierung.
Haben die Abgeordneten das missbraucht? Es ist ja jeder Chat ausgeschlachtet worden.
Von Missbrauch würde ich nicht sprechen, aber ja, sie haben es genutzt. In einer Demokratie geht es manchmal mit schärferen Mitteln zur Sache. Das ist legitim, solange nicht Grundrechte von Einzelnen verletzt werden.
Genau das ist aber der Vorwurf: Dass durch die Chats, die erst im U-Ausschuss und dann in der Öffentlichkeit gelandet sind, Persönlichkeitsrechte verletzt wurden.
Persönlichkeitsschutz ist etwas, das alle bei uns im Haus im Blick haben. Es gibt ja eine eigene Verfahrensart dafür. Der VfGH hat mehrere Beschwerden von Personen, die ihre Persönlichkeitsrechte im U-Ausschuss verletzt sahen, auch schon inhaltlich geprüft.
Laut dem berüchtigten Sideletter von Türkis-Grün war Ihre Bestellung vorab paktiert. Warum wollen Sie jetzt, dass der Bestellmodus geändert wird?
Einen Sideletter nimmt man mit wenig Freude wahr, wenn man selbst darin vorkommt. Die Überlegung ist: Wenn das Parlament die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes mit einer Zweidrittelmehrheit bestimmt, dann kann das nicht mehr Teil von Koalitionsverhandlungen sein. Die Regierung müsste mit der Opposition einen Konsens schaffen, das gäbe dem Verfassungsgerichtshof auch eine breitere Legitimität. Im europäischen Ausland ist diese Art der Bestellung auch üblich.
Und es würde den VfGH ein Stück entpolitisieren. Ist das auch ein Gedanke von Ihnen?
Ich verspreche mir davon, dass es dann ein Hearing für alle Richter gibt und dass durch ein Verfahren gewährleistet wäre, dass die Qualität einer Person – die dann immerhin zwanzig, dreißig Jahre hier arbeitet – entscheidend ist, und nicht, ob jemand in einer Partei gut vernetzt ist. In der Gegenwart haben wir diese Qualität, aber Regeln trifft man ja für Zeiten, wo das in Gefahr sein könnte.
Hatten Sie da bei Wolfgang Brandstetter (Ex-Justizminister auf ÖVP-Ticket, Anm.) Sorge?
Von der Qualität her war er als Universitätsprofessor für Strafrecht über jeden Zweifel erhaben. Eine Nähe zur Politik gab es durch sein unmittelbares berufliches Vorleben. Die Regierung hat eine Abkühlphase für alle VfGH-Mitglieder angekündigt. Ich erwarte mir, dass das in dieser Legislaturperiode beschlossen wird.
Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) prüft Gesetze und Verordnungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit – und kann sie auch aufheben (Stichwort Corona). Konsultiert wurde der VfGH auch zum U-Ausschuss
14 Richter und sechs Ersatzrichter gibt es. Ihre Amtszeit dauert bis zum 70. Lebensjahr
Bestellt werden die Richter auf Vorschläge der Regierung und des National- bzw. Bundesrates
Entscheidungen trifft das Kollegium bei seinen viermal jährlich stattfindenden Sessionen. Vorher bearbeitet ein Richter einen Fall und schlägt dann in der Session eine Entscheidung vor. Darüber wird diskutiert und abgestimmt, der Präsident selbst ist nicht stimmberechtigt
Präsident ist seit Februar 2020 Christoph Grabenwarter (*1966). Er ist Professor für Öffentliches Recht, Wirtschaftsrecht und Völkerrecht an der Wirtschaftsuniversität in Wien
Im Regierungsprogramm steht auch, dass abweichende Meinungen von Verfassungsrichtern veröffentlicht werden sollen – die so genannte Dissenting Opinion. Das sehen Sie aber kritisch?
Ja. Man sollte hinterfragen, welchen Mehrwert das bringt. Wenn es nämlich nur eine Reaktion auf die eine oder andere umstrittene Entscheidung des VfGH ist, dann ist das sicher nicht förderlich und kann ein Gericht durchaus beschädigen. Was mir auffällt: Die Dissenting Opinion wurde in den vergangenen 20 Jahren von allen Parteien gefordert – nur nie gleichzeitig.
Sie meinen, dass es eine Partei vor allem dann interessiert, welcher Richter wie über ein Gesetz entschieden hat, wenn sie selbst in der Regierung ist?
Das haben jetzt Sie gesagt.
Einige Ihrer Richter haben hauptberuflich eine Anwaltskanzlei, der VfGH ist „nur“ Nebenjob. Warum lässt man das zu?
Die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit ist, dass alle Berufsgruppen repräsentiert sind. Wir haben Verwaltungsbeamte, Richter aus der Justiz und Rechtsanwälte. Letztere leisten gerade durch ihre unmittelbare Nähe zur juristischen Praxis einen wertvollen Beitrag, den ich nicht missen möchte. Ich wünsche mir keinen VfGH, in dem nur 14 Uni-Professoren sitzen.
Die Regierung will einen Bundesstaatsanwalt als neue Weisungsspitze in Strafverfahren. Was halten Sie davon?
Ich habe es bisher nicht als Defizit empfunden, dass die Spitze bei der Justizministerin ist. Im Finale der Debatte und mit Blick auf den Bauplan der Verfassung bitte ich aber darum, das Prinzip nicht aus dem Blick zu verlieren, dass auch die Strafverfolgungsbehörde der Kontrolle und Verantwortlichkeit des Parlaments unterliegt.
Zum Amtsgeheimnis, das jetzt abgeschafft werden soll: Hat dieses nicht auch Vorteile? Beim VfGH gibt es ja das Beratungsgeheimnis.
Zum Schutz unserer Unabhängigkeit ist es nötig, dass für eine gewisse Zeit nicht offengelegt wird, wie eine Diskussion abgelaufen ist. Für die Verwaltung wird es sicher Ausnahmen von der Informationsfreiheit geben, um die Schutzinteressen zu wahren, die für die Tätigkeit und für die Rechte Dritter nötig sind.
Was haben Sie sich für 2023 vorgenommen?
Dass wir noch besser erklären, was wir als VfGH tun. Jungen Menschen zu erklären, wie wichtig Demokratie und Rechtsstaat sind, das sehe ich als große Aufgabe. Gerade die vergangenen Monate – Stichwort Russland – haben gezeigt, dass Freiheit nicht selbstverständlich ist.
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