Experten-Umfrage zu Verschärfungen: Was soll jetzt passieren?
Diese Woche galt als die der Entscheidung: Ab Donnerstag sollte feststehen, ob die seit Anfang des Monats geltenden verschärften Corona-Maßnahmen („Teil-Lockdown“) gegriffen haben. Sollte sich erweisen, dass die Zahlen nicht oder nicht im als ausreichend erachteten Maß sinken, würde es weitere Einschränkungen geben, so die Sprachregelung seitens der Bundesregierung.
Nun kann von einer Entspannung der Lage keine Rede sein. Zwar gingen die Neuinfektionszahlen seit dem dramatischen Höchstwert von über 8.200 Personen am 7. November wieder leicht zurück – zuletzt wurden exakt 7.514 Fälle gemeldet –, aber für eine Entwarnung gibt es damit keinen Anlass.
Zumal auch die Hospitalisierungszahlen bzw. die Belegung der Intensivbetten den politisch Verantwortlichen Sorge bereiten. 3.719 Personen müssen mit Stand gestern, Mittwoch, wegen der Infektion im Spital behandelt werden, 536 davon auf der Intensivstation. Was nun?
"Datensalat"
Zur Erinnerung: In den Wochen davor hieß es, der kritische Wert für die Intensivbettenbelegung liege bei 800 – das sind rund 40 Prozent der verfügbaren Kapazitäten. Und diese Grenze werde erreicht, wenn man über mehrere Wochen 5.000 bis 6.000 Neuinfektionen verzeichne.
Erich Neuwirth, Statistiker und Mathematiker, warnt indes vor einer zu schnellen Entscheidung bezüglich schärferer Maßnahmen (siehe auch links). Der Grund: unklare Infektionszahlen. In den aktuellen Daten des Epidemiologischen Meldesystems (EMS) seien am Mittwoch viele Nachmeldungen gewesen. Möglichst aktuelle Daten seien für eine aktuelle Entscheidung aber notwendig, um einen härteren Lockdown begründen zu können: „Morgen mit heute zu vergleichen, wird sonst ein bisschen schwierig“, sagte Neuwirth und plädiert dafür, noch zwei Tage zuzuwarten, bis sich der „Datensalat“ gelichtet habe.
Angespannte Unruhe
Wie auch immer: Angesichts der Entwicklung ist es jedenfalls kein Wunder, dass seit Tagen die Gerüchteküche brodelt und Spekulationen über ein neuerliches komplettes Herunterfahren des Landes sprießen. Im Wesentlichen bleiben zwei Bereiche, wo weitere Maßnahmen denkbar sind: der Handel und die Schulen.
Bei beiden gibt es, wenig verwunderlich, klare Gegner eines Zusperrens. So macht die Wirtschaftskammer Österreich (WKO) Druck auf die ihr bekanntlich nicht fernstehende Kanzlerpartei, von einem Zusperren der Geschäfte unbedingt abzusehen. Und bei den Schulen tritt Bildungsminister Heinz Faßmann ebenso vehement gegen auf den Pflichtschulbereich ausgeweitete Schulschließungen auf sowie viele Landeshauptleute.
Es herrscht jedenfalls eine Art angespannte Unruhe vor dem Wochenende. Der KURIER hat deshalb Experten und Expertinnen aus verschiedensten Bereichen befragt, was aus ihrer Sicht zu tun wäre: Schlaglichter auf ein weitgespanntes Meinungsspektrum zur derzeitigen Causa prima.
Was soll jetzt passieren? So antworten Expertinnen und Experten:
"Lockdown zu light"
Erich Neuwirth, Statistiker und Mathematiker
"Ich halte die Situation derzeit von der Datenlage her für zu unklar, um weitreichende Entscheidungen treffen zu können. Ich würde zwei Tage warten, damit die Infektionszahlen wieder nachvollziehbar sind. Prinzipiell bin ich der Meinung, dass der Lockdown light sowieso zu light war.
Wenn die Zahlen weiter steigen, muss man auf jeden Fall stärkere Maßnahmen setzen. Bis diese wirken, dauert das dann aber wieder. Wenn die aktuellen Maßnahmen schon wirken würden, dann müsste es zunächst zu einer Abflachung kommen. Die sehe ich aber nicht. Zu einzelnen Maßnahmen kann ich in meiner Funktion deshalb nicht besonders viel sagen, weil ihre Auswirkungen kaum auseinanderzudröseln sind.
Aus gesellschaftspolitischer Sicht meine ich: Schule schließen kann nur das allerletzte Mittel sein. Was ich mir gewünscht hätte, wäre, dass man gleichzeitig mit den Herbstferien schon stärkere andere Maßnahmen setzt, weil man dann automatisch die Schulschließung dabei gehabt hätte. Das wäre ein harter Lockdown ohne die Folgen einer nicht vorgeplanten Schulschließung gewesen.
"Vernünftig sein"
Barbara Friesenecker, Intensivmedizinerin MedUni Innstruck
"Es ist nicht zu erwarten, dass sich die Zahlen bereits am nächsten Tag ändern. Wir hängen zwei Wochen hinterher, einen Effekt der derzeitigen Maßnahmen werden wir erst Ende des Monats, Anfang Dezember, sehen. Die Problematik ist momentan, dass neue Infektionen stark aus dem privaten Bereich kommen.
Das Besondere am SARS-CoV-2-Virus ist zudem, dass man bereits ansteckend ist, bevor man sich schlecht fühlt und Symptome hat. Es ist also sehr riskant, sich in Gruppen in Innenräumen zu treffen. Um steil ansteigende Infektionskurven abzuflachen, sollte man jetzt vernünftig sein: Abstand halten, Hände waschen und desinfizieren sowie in geschlossenen Räumen viel lüften.
Das Gefährliche an diesem Virus ist, dass es generalisierte Entzündungsreaktionen im Körper hervorruft. Das heißt: Es ist ein komplettes Lotteriespiel, wer mit leichtem Husten erkrankt oder bei uns an der Herz-Lungen-Maschine hängt. Das kann nicht nur alten Menschen mit Vorerkrankungen passieren, sondern auch Jüngeren. Dieses Wissen scheint bei vielen noch nicht angekommen zu sein."
"Kreativ werden":
Christoph Steininger, Virologe und Infektiologe an der MedUni Wien
"Die zuletzt verordneten Maßnahmen sind vor einer Woche in Kraft getreten. Wir wissen vom ersten Lockdown, dass es zwei Wochen dauert, bis man Effekte sieht. Ich würde daher noch einige Tage zuwarten. Zumindest solange wir prognostizieren können, dass wir noch ausreichend Kapazitäten in den Krankenhäusern haben. Da sie zunehmend knapper werden, kann man nicht mehr allzu lange zuwarten, um eine Entscheidung über Verschärfungen zu treffen.
Man muss jetzt klar definierte Strategien vorbereiten, um den Lockdown zu erweitern. Dazu würde aus meiner Sicht zählen, dass man im Handel genauso wie an den Arbeitsplätzen nachschärft, wo nach wie vor viele Menschen zusammenkommen. Ebenso wie in Schulen. Hier ist wichtig, dass nicht nur über die Schließung diskutiert wird, sondern dass man sich für die Zukunft auch überlegt, welche Alternativen es dazu geben kann, wenn das Virus weiter zirkuliert.
Egal, welche Einschränkung man letztendlich setzt, man zahlt einen Preis dafür – der will gut kalkuliert sein. Es gibt nicht das eine Patentrezept, das unser Problem löst – abgesehen vom vollständigen Lockdown, was aber auch der unkreativste Weg ist."
"Gelerntes umsetzen"
Martin Sprenger, Arzt und Gesundheitswissenschafter
"Ich möchte transparente Zahlen sehen: Liegen mehr Menschen mit Lungenentzündung im Spital als im Schnitt der vergangenen Jahre? Sind es insgesamt mehr Intensivpatienten? Und ich will wissen: Ist es der enorme Aufwand mit der Schutzausrüstung und allen Vorsichtsmaßnahmen, die das Ansteckungsrisiko senken sollen, der das Personal in den Wahnsinn treibt – oder ist es die Patientenzahl? Denn es gab immer schon starke Infektionsspitzen im Winter durch Influenza und andere Erreger, wo die Betten knapp wurden, Patienten am Gang liegen mussten.
Heuer ist das u. a. deshalb der Fall, weil auch sehr viele Patienten aus Pflegeheimen sehr lange im Spital sein müssen, ehe ihr Test negativ ist. Das Wichtigste wäre gewesen – und ist es immer noch –, Alten- und Pflegeheime besser zu schützen. Dann müssen wir alles, was wir schon gelernt haben – Abstand, Masken, Kontaktnachverfolgung – konsequenter umsetzen, Personal aufstocken. Damit kappen wir die Infektionsspitzen und verhindern die Überforderung.
Ich glaube nicht, dass wir jetzt panisch zur Hochdosis-Chemotherapie greifen müssen. Und das Schließen von Schulen ist nie verhältnismäßig, weil der gesundheitliche, pädagogische, soziale und auch wirtschaftliche Schaden größer ist."
"Nur Schulen offen lassen"
Andrea Kdolsky, Ärztin und Ex-Gesundheitsministerin
"Bei fast 600 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen können wir uns nicht mehr leisten zu experimentieren. Eigentlich bin ich sehr für Eigenverantwortung, und dafür, Menschen mit Argumenten von der Notwendigkeit von Maßnahmen zu überzeugen. Aber das hat die Regierung neun Monate lang nicht gemacht. Deshalb können wir jetzt nicht auf die Vernunft setzen und es fehlt dieses ‚Wir-halten-zusammen-Gefühl‘.
Darüber hinaus gibt es eine starke Verunsicherung – geschürt u. a. durch soziale Medien, widersprüchliche Expertenmeinungen etc. Es ist für die Leute auch nicht nachvollziehbar, dass sie ein Masseur angreifen darf, sie aber nicht mit Abstand im Restaurant sitzen dürfen. Deshalb sieht ein Teil der Bevölkerung den Ernst der Situation nicht – Stichwort Gedränge in Einkaufszentren, 8.000 Menschen bei der Eröffnung eines Möbelhauses.
Weil jetzt die Zeit fehlt, neue Kommunikationsstrategien aufzubauen, glaube ich, dass alles – bis auf die Schulen im Pflichtschulbereich und Supermärkte – für zumindest 14 Tage zusperren muss. Denn ein ‚Lockdown light‘ ist wie ein ‚bisschen schwanger‘. Wahrscheinlich steigen wir alle besser aus, wenn der Lockdown intensiver, dafür aber kürzer ist."
"Selbstverantwortung"
Gunda Unterweger, Hoteliere "Der Steirerhof"
"Ich will nicht mit erhobenem Zeigefinger dastehen und den Profis und der Politik sagen, was sie zu tun haben. Ich bin eine Praktikerin und ich appelliere an das Verantwortungsbewusstsein und an das Gemeinsame. Jeder hat in seinem Bereich seine Meinung, aber wir dürfen dabei das große Ganze nicht vergessen.
Ich persönlich glaube, dass die Leute endlich stärker Selbstverantwortung übernehmen müssen. Wir haben im ‚Steirerhof‘ alles getan, was wir können und auch unsere Kapazität um 25 Zimmer reduziert. Derzeit gibt es wahrscheinlich keinen sichereren Ort als ein Ferienhotel. Wenn ich doch einen Rat geben darf: Ich würde versuchen, auf die individuelle Situation der einzelnen Häuser einzugehen und die schwarzen Schafe herauszufiltern. Es kann doch nicht sein, dass wegen einzelner schwarzer Schafe alle Hotels zusperren müssen.
Ich bin es leid, dass Hotellerie und Gastronomie der Buhmann sind und für Ischgl büßen müssen. Jeder Hotelier will sein Haus, seine Mitarbeiter und Gäste vor Corona schützen. Wir im ‚Steirerhof‘ würden sofort noch weitere Auflagen erfüllen, wenn man uns erklärt, was Sinn machen würde."
"Joboffensive starten"
Johannes Kopf, AMS-Vorstand
"Der heurige Winter stellt die heimische Wirtschaft und da vor allem die Gastronomie und den Tourismus vor ungeheure Herausforderungen. Das Instrument der Kurzarbeit und der Umsatzersatz werden aber sehr helfen und das Explodieren der Arbeitslosigkeit in den nächsten Monaten verhindern.
Die nunmehr realistische Aussicht auf eine Covid-19-Impfung gibt Mut und lässt uns im Laufe des nächsten Jahres mit einem deutlichen Wirtschaftsaufschwung rechnen. Das sind auch gute Nachrichten für den Arbeitsmarkt. Da ist es nur richtig, wenn man schon jetzt in die Aus- und Weiterbildung von Arbeit suchenden Menschen investiert.
Aus diesem Grund starten wir daher die große Corona-Joboffensive. Sämtliche AMS-Stellen in den Bundesländern sind involviert und werden regionale, branchen- und zielgruppenspezifische Schulungen anbieten. Die Schwerpunkte liegen in den Bereichen Digitalisierung, Umwelt, Pflege, Soziales und Bildung. Aber es geht etwa auch um das Nachholen von Bildungsabschlüssen. Das AMS erhöht damit die Chancen von Arbeitssuchenden nach der Krise, wieder rasch einen Job zu finden."
"Den Spagat schaffen"
Martin Kocher, Leiter des Instituts für Höhere Studien (IHS) und Präsident des Fiskalrates
"Wir sollten versuchen, die wirtschaftlichen Aktivitäten im Land möglichst weitgehend aufrechtzuerhalten, und wir müssen gleichzeitig im Kampf gegen die Pandemie effizienter werden. Diesen Spagat müssen wir schaffen. Notwendig ist dafür, insbesondere in der Pandemie-Bekämpfung die Ressourcen beim Testen und beim Nachverfolgen der Kontaktpersonen zu erhöhen. Das scheint mir noch nicht optimal zu laufen.
Ein sofort verhängter, harter Lockdown wäre meiner Meinung nach nicht nachhaltig. Die Strategie der Regierung, bei den Verschärfungen lieber step by step vorzugehen, finde ich besser. Denn: Auch wenn durch einen harten Lockdown die Zahlen kurzfristig sänken, stünden wir doch nach ein, zwei Monaten wieder vor dem gleichen Problem der zu hohen Zahl an Neuinfektionen. Was wäre dann erreicht?
Meiner Meinung nach müssen wir jetzt erst einmal abwarten und bewerten, was die bisherigen Maßnahmen gebracht haben. Die physischen Kontakte, sei es in der Gastronomie oder sei es im Privaten, wurden ja bereits deutlich eingeschränkt."
"Unwort des Jahres"
Michael Musalek, Ärztlicher Leiter Anton Proksch Institut und Vorstand Sigmund Freud Privatuni
"Ich verstehe natürlich, dass man die gesundheitliche Situation in den Griff bekommen muss. Da müssen Maßnahmen gesetzt werden. Welche das sind, werden die Experten sicher besser wissen als ich. Bei all dem darf aber nicht vergessen werden, dass diese Maßnahmen umfassende psychosoziale Auswirkungen haben. Und zwar für alle Bevölkerungsschichten. Ein Beispiel: Es kann nicht nur darum gehen, die Schulen zuzusperren.
Es müssen auch Alternativen angeboten werden. Vor allem für Eltern, die arbeiten gehen müssen. Da geht es dann darum, eine entsprechende Betreuung sicherzustellen. Also Lockdown machen und dann glauben, dass das Problem gelöst ist, das ist einfach zu wenig. Und ich ersuche auch darum, die Formulierung ‚Social Distancing‘ nicht weiter zu verwenden. Das ist für mich das Unwort des Jahres.
Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir brauchen körperliche Distanz, das ja. Aber doch nicht soziale. Die Menschen durchleben eine Zeit großer Anspannung. Viele Ängste treten jetzt zutage. Die Angst vor der Krankheit aber auch wirtschaftliche Sorgen. Deshalb greifen jetzt mehr Menschen zu Alkohol als früher."
"Lehrer fortbilden"
Alexandra Bosek, Schülerin der AHS Biondekgasse Baden, vertritt 1,2 Millionen Schüler
"Dass die Oberstufen weitestgehend auf Distance Learning umgestellt haben, geht durchaus in Ordnung. Schließlich geht es darum, Kontakte zu minimieren. Was aber nach Meinung von uns Schülerinnen und Schülern fehlt, ist, dass sich alle Lehrkräfte verpflichtend im Bereich des digitalen Lehrens fortbilden. Denn nur wenn das gewährleistet ist, wird es nicht zu noch mehr Bildungslücken kommen, wie sie durch den ersten Lockdown eh schon verursacht wurden. Wir registrieren nämlich, dass die Qualität des Online-Unterrichts sehr unterschiedlich ist.
Manche Lehrer erteilen zum Beispiel nur Arbeitsaufträge per Mail und sind für Rückfragen kaum erreichbar. Andere wiederum machen online nur Frontalunterricht, weil sie es halt nicht besser können. Dabei gibt es gerade im Distance-Learning-Bereich Methoden, wie man individueller unterrichtet. Diese können Pädagogen in den Fortbildungskursen der Pädagogischen Hochschulen lernen.
Eine weitere Forderung von uns: Wir brauchen mehr Schulbusse. Denn was nützt es uns, wenn wir die Hygienemaßnahmen in der Schule umsetzen, aber vorher dicht gedrängt in den Öffis sitzen?"
Kommentare