Eine Impfpflicht könnte wie die Gurtenpflicht funktionieren
„Es wird keine Impfpflicht in Österreich geben“, sagte Sebastian Kurz, damaliger Kanzler, im August beim Sommerministerrat.
Der Sommer ist vorbei. Eine allgemeine Impfpflicht ist „jetzt eine der Maßnahmen, die diskutiert werden, und ich halte das für wichtig“, sagte ÖVP-Ministerin Elisabeth Köstinger beim Ministerrat am Mittwoch. Eine Impfpflicht könne zwar nicht die aktuelle Notsituation lösen, aber sie könnte langfristig helfen, aus der Pandemie herauszukommen. Die grüne Justizministerin Alma Zadić pflichtete ihr bei: Der Gesundheitsminister berät bereits mit Juristen, sagte sie.
Der KURIER berichtete bereits am Sonntag, dass die Landesgesundheitsreferenten über eine Impfpflicht nachdenken. Aber nicht nur die Politik hat angesichts der dramatischen Entwicklungen ihre Meinung geändert: Epidemiologe Gerald Gartlehner sagte am Dienstag in der ZiB2, er sei aus demokratiepolitischen Gründen immer gegen eine allgemeine Impfpflicht gewesen, mittlerweile sei die Maßnahme aber „die letzte Ressource, um vor allem die nächste Welle zu vermeiden“. Ziel sei eine Immunisierung von 85 bis 90 Prozent, derzeit haben erst 65 Prozent ein Impfzertifikat.
Die Impfkampagne, das „gut Zureden“ und die neuen Beschränkungen für Ungeimpfte fruchten nicht – die sogenannten „gelinderen Mittel“ seien ausgeschöpft, sagt Maria Berger, Ex-Justizministerin (SPÖ) und bis 2019 Richterin am Europäischen Gerichtshof, im KURIER-Gespräch: „Deshalb ist jetzt die Zeit gekommen: Es ist gerechtfertigt, eine Impfpflicht einzuführen.“
Ja zu Bußgeld
Ähnlich sieht es Medizinrechtsexperte Karl Stöger von der Uni Wien. Das Parlament könnte ein Gesetz mit einfacher Mehrheit beschließen. Die Politik müsste argumentieren, dass die Impfung dazu beiträgt, das Infektionsaufkommen so weit zu bremsen, dass unser Gesundheitssystem mit den Krankheitsfällen zurechtkommt – „und das ist erwiesen“, sagt Stöger. Der Gesundheitsschutz der Allgemeinheit könnte über dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Einzelnen stehen.
Verwaltungsstrafe oder Impfregister
Und wie setzt man die Impfpflicht durch? Für die Juristen wäre eine Verwaltungsstrafe das „Mittel der Wahl“: Berger schlägt eine Anlehnung an die Gurtenpflicht vor: Wird jemand ohne gültigen Impfnachweis von der Polizei erwischt, muss er Strafe zahlen. Und wer nicht zahlt, muss eine Ersatzfreiheitsstrafe antreten.
Medizinrechtler Stöger denkt eher an eine groß angelegte Aktion: Die Gesundheitsbehörden könnten das Melderegister mit dem Impfregister abgleichen. Wer nicht geimpft ist, wird mit einem Schreiben dazu aufgefordert. Und wer sich binnen einer Frist nicht impfen lässt, bekommt einen Strafbescheid mit Geldbuße.
Arbeitgeber hätten mit der Impfpflicht ein Instrument in der Hand, Mitarbeiter zu kündigen, wenn diese sich nicht impfen lassen. Berger ist aber dagegen, auch die Mindestsicherung oder die Notstandshilfe an den Impfstatus zu knüpfen.
Neuer Straftatbestand?
Es gibt noch andere Ideen, die weitaus schärfer wären: Verfassungsjurist Heinz Mayer sagt, dass auch ein neuer Straftatbestand mit unbedingter Haftstrafe möglich wäre – rein verfassungstechnisch zumindest. Oder Beugestrafen, die schon jetzt ein Mittel im gerichtlichen Verfahren sind, um bei Menschen ein bestimmtes Verhalten zu erzwingen.
Eine Verwaltungsstrafe sei „gesellschaftlich vertretbar“, und die Vorschrift könnte auch eine Hilfe sein, sagt Berger: „Viele Menschen stehen in ihrem sozialen Umfeld unter Druck. Wir wissen, dass manche heimlich in den Nachbarbezirk zum Impfen fahren, damit sie niemand dabei sieht. Eine Impfpflicht wäre eine gesichtswahrende Lösung und würde die Spaltung beenden, weil sie für alle gilt und niemand sich entziehen kann.“
Nein zu Priorisierung
Ideen gibt es auch für den Gesundheitsbereich: Diese reichen von Selbstbehalten für medizinische Behandlungen bis hin zu einer Priorisierung im Spital. Sprich: Ungeimpfte werden nachgereiht, wenn ein (geimpfter) Patient das Intensivbett dringender braucht.
Davon halten beide Experten nichts: Es sei ein ethisches Grundprinzip, dass jedem Menschen – egal, wie sehr er sich zuvor um seine eigene Gesundheit geschert hat – dieselbe Qualität an Behandlung zuteilwird. Auch eine Patienten-
verfügung, mit der Impfverweigerer freiwillig auf medizinische Hilfe verzichten, sei undenkbar, sagt Stöger: „Niemand wird, wenn er gerade ums Überleben kämpft, weil er nicht mehr atmen kann, mit einem Zettel winken, dass er sich nicht behandeln lässt.“
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