Eine Geschichte des Scheiterns: Wie es zum vierten Lockdown kam
Wie konnte das passieren? Die Ursachen, warum Österreich erneut in einen Lockdown muss, sind vielfältig, den einen, alles entscheidenden Grund gibt es nicht, dafür ist die Sache zu kompliziert.
Auffällig bleibt trotz allem die, gelinde gesagt, verbesserungswürdige Zusammenarbeit zwischen Regierung und Experten. Virologen, Epidemiologen und Simulationsforschern haben sehr früh, offen und hartnäckig vor der vierten Welle gewarnt – ohne Erfolg. Wie kam es zu dieser „unfassbaren Entwicklung“ (© Simulationsforscher Peter Klimek)?
Der KURIER zeichnet die wesentlichen Stationen nach.
13. April 2021
In seiner Rücktrittsrede mahnt Gesundheitsminister Rudolf Anschober zur Vorsicht (Bild unten). Bei dieser Gelegenheit wird – wieder – deutlich, dass es zwischen Türkis und Grün eine unterschiedliche Sicht auf die Pandemie gibt.
Während Bundeskanzler Sebastian Kurz mit Sätzen wie „Es kommt eine intensive und coole Zeit auf uns zu“ in Social Media-Kanälen betont optimistisch argumentiert, gibt Anschober den „Spielverderber“: Die Impfskepsis sei in Teilen der Bevölkerung noch immer hoch, die Mutationen des Corona-Virus seien unberechenbar, kurzum: Die Pandemie sei nicht geschafft. 12. Mai 2021
Bei der wöchentlichen Sitzung der Corona-Kommission berichten die Experten, das „Fallgeschehen“ sei in Österreich rückläufig, die Belastung des Gesundheitssystems sinke. Eine Tatsache macht den Beobachtern aber schon an diesem Frühlingstag Sorgen: Die Impfbereitschaft der Österreicher ist nicht hoch genug, es fehlt „zielgruppenspezifische Kommunikationsarbeit“, sprich: skeptische und zögernde Menschen werden schlecht bis gar nicht erreicht.
2. Juni 2021
Die Risikolage in der Pandemie ist in Österreich „nur“ mittelgroß, die Belastung des Gesundheitssystems sinkt. Die Corona-Kommission erinnert in ihrem Lagebericht dennoch daran, dass es „Anreize“ brauche, „um die Impfbereitschaft zu erhöhen“. Dieser Satz wird sich in den nächsten Wochen wiederholen.
22. Juni 2021
Kanzler Kurz fliegt für einen Tag nach Berlin und trifft dort den Corona-Experten Christian Drosten (Bild unten). In einem nicht öffentlichen Gespräch sagt Drosten sinngemäß: Für Geimpfte ist die Pandemie vorbei. Kurz und seine Berater wiederholen das vor Journalisten – und verinnerlichen den Satz. Er bleibt bis in den September eine der zentralen Botschaften von Türkis.
15. Juli 2021
Die Corona-Kommission sieht eine besorgniserregende Trendwende bei den Zahlen: Das Infektionsgeschehen steigt bundesweit. Per Monatsmitte endet der Vertrag der Regierung mit dem Roten Kreuz, das für die Impfkampagne verantwortlich ist. Rotkreuz-Manager Gerry Foitik wird Wochen später ernüchtert festhalten, dass es ab diesem Zeitpunkt keine nennenswerte Impfkampagne gegeben hat.
Neo-Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein verspricht zwar Verschärfungen, weil er die „Fehler des Vorjahres“ nicht wiederholen will. Die Verschärfungen sind aber überschaubar: Der Grüne Pass wird nicht nach der ersten, sondern erst nach der zweiten Impfung freigeschaltet, für den Eintritt in Clubs und Discos muss anstatt eines Antigen-Tests ein PCR-Test gemacht werden.
Der „Schönheitsfehler“ dabei: Die Verschärfungen sind nicht nur nicht besonders streng, sie gelten zudem erst ab Mitte August. Und: Die Maskenpflicht im Handel fällt.
11. August 2021
In Gesprächen mit Regierungsmitgliedern warnen Experten scharf vor der 4. Welle. Auch im KURIER (siehe Artikel unten) kommen die Fachleute ausführlich zu Wort. „Es baut sich eine Welle auf. Wenn wir die Epidemie unkontrolliert weiterlaufen lassen, kann das erneut in eine Situation führen, wo hoher Druck auf das Gesundheitssystem entsteht“, sagt etwa Komplexitätsforscher Peter Klimek.
19. August 2021
In den Krisenstäben wird erstmals von einem Worst Case-Szenario gesprochen. Der Grund: In den Simulationsrechnungen potenzieren sich zwei gefährliche Entwicklungen: Der Impffortschritt und die zunehmende Verbreitung der extrem ansteckenden Delta-Variante.
Die Zahl der Impfungen ist gegenüber Juni um 85 Prozent gefallen, eine Durchimpfungsrate von zumindest 80 Prozent ist bis Ende September „kaum erreichbar“. Angesichts der extrem niedrigen Impfquote sei die „erneute Überauslastung von Intensivstationen“ im Herbst nicht auszuschließen, heißt es in einem Papier. Zugespitzt formuliert: Im Herbst droht wieder der Kollaps.
28. August 2021
Die ÖVP lädt zum Bundesparteitag. Der Kanzler sagt in seiner Rede, was auch der Gesundheitsminister seit Wochen predigt: Impfen ist der Weg aus der Pandemie. „Unser Ziel muss sein, dass mit dem Auf- und Zusperren Schluss ist.“ Die Impfzahlen sind weiter im Keller: An diesem Sonntag bekommen in ganz Österreich 3.429 Menschen ihren ersten Stich – und 16 (!) eine Booster-Impfung.
3. September 2021
Experten wie Dorothee von Laer und der Chef der heimischen Intensivmediziner, Walter Hasibeder, warnen vor einem vierten Lockdown. „Die Erwachsenen sollen sich verdammt noch einmal impfen lassen“, sagt die Virologin in der ZIB2.
16. September 2021
Der Anteil der Vollimmunisierten hält bei 59,49 Prozent. In Wien, der Steiermark und Kärnten werden erste elektive Eingriffe (neues Kniegelenk etc.) verschoben. Im Krisenstab steht in einem Positionspapier, dass der „fehlende Impffortschritt mit Schutzmaßnahmen ausgeglichen werden muss“. Es gehe nicht um ein Verhindern, sondern um ein „Abflachen der vierten Welle“.
Die Kommunikation der Regierung nach außen bleibt: Die Pandemie ist eine der Ungeimpften. Der Kanzler sagt in Interviews, dass sich ein Großteil der Erwachsenen „mit nichts mehr (gemeint sind die Schutzmaßnahmen, Anm.) auseinandersetzen muss“.
26. September 2021
In Oberösterreich schafft die impfkritische Kleinpartei „MFG“ ohne nennenswertes Programm und Budget den Sprung in den Landtag.
6. - 9. Oktober 2021
Im Kanzleramt, diversen Ministerien und Privatwohnungen von Vertrauten des Bundeskanzlers werden Hausdurchsuchungen gemacht. Die Regierung ist tagelang im Ausnahmezustand, die Grünen stellen die Handlungsfähigkeit des Regierungschefs in Abrede. Kurz zieht sich am 9. Oktober zurück. Alexander Schallenberg wird Kanzler (Bild unten).
22. Oktober 2021
Die Regierung erweitert den seit September geltenden „Stufenplan“ und legt sich theoretisch auf eine neue Maßnahme fest: Sobald 600 Intensivbetten mit Covid-Patienten belegt sind, kommt es zu einem Lockdown für Ungeimpfte.
10. November 2021
Der Kanzler sagt, es gibt keinen Lockdown für Geimpfte aus Solidarität mit Ungeimpften.
11. November 2021
Die Corona-Kommission schlägt Alarm: „Die medizinische Versorgung der österreichischen Bevölkerung steht vor einer ernstzunehmenden Bedrohung.“
13. November 2021
Am Vorabend eines Treffens mit den Landeshauptleuten verhandeln Türkis und Grün im kleinsten Kreis im Kanzleramt, wie es weitergehen soll. Es soll den Lockdown für Ungeimpfte geben. Der reale Unterschied zu den bereits geltenden 2G: Einkaufen abseits des Supermarkts wird Ungeimpften verboten.
Mückstein plädiert für weitere Verschärfungen (generelle FFP2-Maskenpflicht, Ausgangssperre etc.) – er kann sich nicht durchsetzen.
18. November 2021
Die Regierungsspitze lädt die Sozialpartner zum Gipfel. Homeoffice, Kurzarbeit und Wirtschaftshilfen werden besprochen, ein scharfer Lockdown ist kein Thema, zumindest nicht für relevante Teile der Kanzlerpartei.
19. November 2021
In der Nacht zum Freitag wird bei der Landeshauptleute-Konferenz verhandelt. Frühmorgens um drei einigen sich Kanzler, Gesundheitsminister und Länder auf einen flächendeckenden Lockdown für alle – inklusive einer Impfpflicht.
22. November 2021
Der vierte Lockdown tritt in Kraft.
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